Zu fast jedem Tag macht Lewis-Stempel seine Notizen. Alles liest sich sehr unaufdringlich. Wie nebenbei berichtet er, welche Tiere ihm begegnet sind und was sonst so los war in seinem Wald.

Doch von Anfang an: Eigentlich sitze ich am Frühstückstisch und um mich herum beginnt langsam der neue Tag. Ich mag es, den Tag offline zu beginnen. Ich möchte nicht sofort von der hektischen Flut an Informationen und Geschwätz oder auch nur überfröhlichem Radiolärm getrieben werden. Stattdessen lese ich ein paar Seiten im aktuellen Lieblingsbuch oder notiere eigene Gedanken. Heute begleite ich John Lewis-Stempel durch seinen winterlichen Wald. Er beginnt sein Buch „Im Wald – Mein Jahr im Cockshutt Wood“ mit dem Dezember. Bei meinem Frühstück ist es zwar noch November, aber es ist ähnlich dunkel und unwirtlich. Nicht ganz so kalt wie im Buch.
Es gelingt Lewis-Stempel sehr vielfältig zu schreiben, ohne dabei sprunghaft zu wirken. Immer wieder staune ich „Hey, das ist ein genialer Gedanke, das mag ich mir merken“. Zum Beispiel cae ysbyty, das walisische Wort für Hospitalwiese. Dort dürfen kranke Kühe und andere Tiere sich an Heilkräutern gesund fressen.
Essen wir uns eigentlich auch gesund? Oder machen gerade diejenigen Produkte uns krank, die uns als besonders heilsam angepriesen werden: Ein Kinderyoghurt, der gesund wie ein Steak sein soll und vieles anderes, das fröhliche Verpackungen uns als gesund, motivierend oder gar energetisierend anpreisen, das dann aber doch hauptsächlich Zucker und andere billige Füllstoffe enthält.
Ich möchte ganz gewiss nicht ins 18. Jahrhundert zurück, das Lewis-Stempel oft als Vergleich oder historische Herleitung verwendet, aber es stimmt schon nachdenklich, dass sich arme und frierende Bauern regionaler, frischer, abwechslungsreicher und damit letztlich gesünder ernährten als wir heute mit all unserem Wohlstand und Ernährungswissen. Wir haben internationalen Lieferketten für Chia-Samen aus Mexiko, Rindfleisch aus Brasilien und Äpfel aus Neuseeland. Die wenigen tausend Kilometer von Spanien zum örtlichen Supermarkt gelten da schon fast als regionale Produktion.
Ein weiteres Beispiel, das ich mir merke, ist der Ilex. Ich ärgere mich über ihn, wenn er in der Buchenhecke wuchert. In früheren Zeiten wurde er dagegen gezielt als Viehfutter und Windschutzhecke gepflanzt. Außerdem, und das finde ich so unglaublich, sind nur die unteren Blätter stachelig. Wenn Ilex in die Höhe wächst, sind die oberen Blätter stachellos und für das Vieh schmackhaft.
An manchen Tagen schreibt er dann doch etwas sprunghaft. Da beginnt er mit einem neuen Thema und während ich noch auf weitere Details dazu warte, ist schon beim nächsten Thema. Was ist nun mit dem benachbarten Bauer, der seine Erlenhecke auf den Stock setzt? Oder die Füchse, vor deren Bau ein Lammfell liegt? An solchen Tagen scheint mir, muss er seinen Ton erst noch finden. Nicht jeder Tag kann rund und gelungen sein – selbst mit eigenem Wald nicht.

Was unterscheidet nun Lewis-Stempel von anderen Landschaftsbeschreibungen? „Lewis-Stempel beschreibt die Landschaft nicht auf eine lyrische Art“ notiere ich versuchsweise. Aber das stimmt nicht. Er beschreibt durchaus seine Bäume und die Tiere, die ihm begegnen. Und oft sind die Beschreibungen oder Vergleiche durchaus lyrisch:
– Das abendliche Blöken der Schafe ist „rhythmisch wie sanfte Wellen, die gegen eine Hafenmauer schwappen.“
– Der „Nebel klammert sich an den Boden, so dicht, dass keine Grenzlinie zwischen Teich, Wald, Himmel zu erkennen sind.“
– Eine Amsel wird vom Sturm umhergewirbelt „wie ein schwarzes Taschentuch im Wäschetrockner.“
Er mischt es allerdings mit vielen sachlichen Gedanken und historischen Informationen. Ihm gelingt diese Mischung auf eine Weise, dass ich beides gerne lese. Die romantischen Sätze über den wütenden Winterwind und die sachlichen über die unterschiedliche Weise mit der Eichhörnchen und Mäuse Nüsse knacken. Dennoch, spätestens beim Abschuss der Kanadagänse, die alle anderen Tiere des Waldteiches verdrängen, ist klar, dass dies kein Waldromatikbuch ist.
Während des Lesens ist es um mich herum Januar geworden. Im Buch ist es bereits April. Kurz nach den Gedanken zum Gesang des Waldlaubsängers, überrascht mich ein Rezept für Bärlauch. Ups, das ist jetzt etwas plötzlich! In meinem Kopf wirbeln dazu Worte von „buntgemischt“ über „vielseitig“ bis „Wirrwarr“ herum. Aber es ist ganz eindeutig kein Wirrwarr. Gerade darin liegt die Kunst dieses Buches, dass es, trotz der zahllosen Mosaiksteinchen, keine zusammenhanglose Notizsammlung ist, sondern ein lesenswertes Ganzes.

Den Rahmen für dieses gelungene Mosaik bildet der Cockshutt-Wood. Gefüllt wird dieser Rahmen mit immer neuen Eindrücken, die der nur vordergründig immergleiche Wald bietet. Dazu kommen historische und naturwissenschaftliche Fakten, die wie knusprige Streusel auf einem saftigen Zwetschgenkuchen verteilt sind. Reichlich, aber nie zu viele.
Beim Lesen gerät oft in Vergessenheit, wie klein der Cockshutt-Wood ist. Wie klein genau, ist mir nicht klar. Ein Mal heißt es „eineinhalb Hektar Bäume“ ein anderes Mal „dreieinhalb Hektar Wald“. Bestenfalls also eine Fläche von 350 mal 100 Meter. Das ist für einen Wald nicht viel. Dafür, dass Lewis-Stempel alles selbst und von Hand macht, ist es reichlich. Es ist erstaunlich, wie viele Geschichte auf dieser kleinen Fläche zu erzählen sind.