Dara McAnulty „Tagebuch eines jungen Naturforschers“

Mit nur 14 Jahren fing Dara McAnulty an, dieses Buch zu schreiben. Ein Buch, in dem ungewöhnliche Sätze wie „Mein Inneres explodiert, Worte schießen in mich hinein, hageln herab“ vorkommen, aber auch zahlreiche mir bisher unbekannte Vogelarten und Geheimverstecke für Erinnerungen.
Das Buch ist in Jahreszeiten unterteilt und beginnt mit dem Frühling. Die Naturerlebnisse der einzelnen Jahreszeiten nehmen großen Raum in den Kapiteln ein. Gleichzeitig hat jeder der Abschnitte sein eigenes Thema, eine eigene Stimmung.
Dara ist Autist und lebt in Nord-Irland. Neben den Naturbeobachtungen ist auch der Autismus ein wichtiges Thema im Buch. Immer wieder beschreibt Dara, wie anders als seine Mitschüler er die Welt um sich herum wahrnimmt.

Frühling
„Der Wind und der graue Himmel, die uns am Morgen begrüßen, hindern Lorcan, Bláthnaid* und mich nicht daran, doch hinauszurennen. Der Wind schlägt uns in die ungeschützten Gesichter, unsere Augen und Münder füllen sich mit Salz und Frische. Sogar der schwarz-graue Himmel enthält hier unheimlich viel Licht und Raum und Farbe. Er hat nicht die Schwere eines Vorstadthimmels, vielleicht einfach, weil er so viel Platz hat.“ [1]
Sätze, die jeder Deutschlehrer als verfehlt gestrichen hätte. Ich kann Daras Dankbarkeit gegenüber dem Lektor, der solche Sätze gelten ließ, verstehen. (ist im Anhang extra erwähnt)
* Die Geschwister des Autors

„Heute in der Pause habe ich die Trauerbachstelzen beobachtet, wie sie immer wieder in ihr Nest flogen. Wie soll ich mich bei so etwas einsam fühlen? Die Natur ist meine Zuflucht. Wenn ich dasitze und etwas beobachte, fragen Erwachsene meistens, ob bei mir alles in Ordnung sein. Als wäre es nicht in Ordnung, einfach dazusitzen, die Welt zu verarbeiten, Dinge zu durchdenken und andere Arten bei dem zu beobachten, was sie so tun“.
Ich selbst gebe als Hobby oft „schauen“ an. Bisher habe ich mich immer gefragt, warum dies als so absolut außergewöhnlich gesehen wird. Mit den Erklärungen von Dara verstehe ich nun, weshalb andere Menschen darauf nur mit Kopfschütteln reagieren.

Ich träume gerne vor mich hin, lasse meinen Gedanken freien Lauf, damit sie Dinge verarbeiten können, die wegsortiert oder noch mal durchdacht werden müssen. Aber Gequatsche und Gestichel, die irgendwie immer Hand in Hand gehen, machen mich beklommen.
Obwohl ich viele von Daras Eindrücken nachempfinden kann, fühle ich mich nach der ersten von vier Jahreszeiten seltsam abgehetzt. Woran liegt das? Gerade Dara schreibt doch, wie sehr ihn die Hektik der Welt um ihn herum anstrengt. Als ich mir die täglichen Einträge noch einmal genauer anschaue, wird klar, wie viel in dieser Familie los ist.
Vor der Schule noch Kaulquappen beobachten. Am Abend ein Ausflug in einen nur eine Stunde entfernten Wald. Tiere beobachten. Herumrennen. Sorgen über den Schulalltag. Bewunderung der Mutter, die den Umzug der Familie in eine neue Stadt allein organisiert. Einen besonderen Vogel entdecken. Das Glück des Tages ganz sorgfältig aufbewahren. Im Garten schnell nochmal auf die Schaukel. Puh, da hat eine hektische Großstadt fast etwas Geruhsames. Und in diesem Tempo geht das jeden Tag. Die gleichzeitige Schilderung der Themen „Schulalltag“, „Familienleben mit Autismus“ und „Naturbeobachtung“ sind für mich als Leser eine Herausforderung.

Sommer
Immer wieder beschreibt Dara – ohne es explizit so zu nennen – eine Bullerbü-Kindheit, die allen von uns gut getan hätte. Eltern, die die Bedürfnisse ihrer Kinder wirklich kennen und die gemeinsame Zeit so planen und erklären, dass es für alle ein Gewinn ist. Ein 14-Jähriger, der auf einem gemeinsamen Ausflug erst wie wild herumtollt und dann eine Viertelstunde auf einem Hügel einschläft. Und beides ist gut.  

Wiesenralle
Ein mir völlig unbekannter Vogel, der für Dara ein Sinnbild der verlorengehenden Vielfalt durch die Eingriffe des Menschen ist.
Die Gedanken zur Wiesenralle und die Ansicht der verletzten Robbe erinnern mich daran, dass sogar dieser Ort hier, mitten in der Wildnis, nicht vor dem Einfluss des Menschen verschont bleibt. Überall gibt es Verluste. Lebensraum geht verloren. Obwohl hier und an vielen anderen Orten etwas dagegen getan wird, bleibt es eine sehr komplizierte Angelegenheit. Ich fühle mich nicht qualifiziert, die Situation zu verstehen oder zu bewerten. Ich weiß aber, dass sie mich verunsichert. Das Gleichgewicht stimmt nicht mehr so richtig.
Es ist mutig einmal keine Lösung vorzuschlagen. Nicht gleich alle Autos abschaffen zu wollen oder Fleischesser in die Hölle zu verdammen. Stattdessen beschreibt er seine Wahrnehmung, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dass dies ihn beschäftigt und er daran mitarbeiten möchte, dass dieses Gleichgewicht wieder hinzubekommen.

Vogelbürger
Dara berichtet von einer Legende, dass ein König einen Schwarm Dohlen in der Stadt als Bürger aufgenommen hat, nachdem sie ihm geholfen hatten. Er liebt diese Geschichten, die Natur, Fantasie und Wissenschaft miteinander verbinden.

Rathlin Island
Auf der einsamen Vogelinsel Rathlin Island ist Dara glücklich. Er nennt diese Gegend seinen natürlichen Lebensraum. Den eigenen natürlichen Lebensraum zu kennen ist wichtig und längst nicht selbstverständlich. Und selbst wenn man ihn kennt, wer schafft es, dort auch zu leben? Ich habe lange gebraucht, den eigenen Lebensraum nicht nur zu ahnen oder einmal für ein Wochenende zu besuchen, sondern ihm Stück für Stück näher zu kommen. Erst jetzt nach der Hälfte meines Lebens, beginne ich häufiger dort zu sein.
Aber was ist mit den vielen müden Gesichtern in der morgendlichen Straßenbahn? Leben diese Menschen, die auf dem Weg zur Brötchenverkaufstheke oder dem Büroeinerlei sind, in ihrem eigenen Lebensraum? Mir scheint, die bunte Farbe in den Gesichtern und die klackernden Stöckelschuhe oder die IchBinWichtig-Krawatten sind nur Maskerade, um an einem Ort zu überleben, der ganz und gar nicht der eigene Lebensraum ist.

Herbst
Mittlerweile bin ich im Herbst, der dritte der Jahreszeiten, in die das Buch unterteilt ist, angekommen. Der Umzug ist geschafft. Ich kenne alle Wanderparkplätze im Umkreis von einer Autostunde und könnte eine sicherlich beträchtliche Liste an Tieren und deren Beobachtungen erstellen. Über die Naturforschungen, die im Titel vorkommen, weiß ich weiterhin wenig. Das finde ich schade und das ist für mich eindeutig eine Schwäche des Buches. Auch bin ich unsicher, ob ich das Buch wirklich als NatureWriting bezeichnen würde, obwohl Dara einen NatureWriting-Preis* für das Buch bekommen hat. Dies zeigt erneut, wie unterschiedlich die Definitionen für Nature Writing sein können. Ich gehe allerdings davon aus, dass in Großbritannien auch alle anderen Aktivitäten von Dara McAnulty bekannt sind. Er schreibt für verschiedene Zeitungen und ist bei Kundgebungen aktiv. Von dieser Perspektive aus ist das Tagebuch, das sein Alltagsleben beschreibt eine Ergänzung. Wenn man jedoch nur das Tagebuch liest, fehlt etwas.
 * Wainwright-Preis 2020
Auf Daras Homepage finde ich einige seiner journalistischen Arbeiten. Google Chrome oder Microsoft Edge bieten automatische Übersetzungen an. Die klingen zwar grausig, ermöglichen aber trotzdem einen schnellen Eindruck. Ja! Das sind die Texte, die mir gefehlt haben. Davon hätte mehr im Buch sein sollen. Vielleicht könnte die deutsche Version des Buches einfach umfangreicher sein als das Original, damit auch die deutschsprachigen Leser diese Seite von Dara kennenlernen können.

Kastanien
Einem kleinen Jungen wird von seiner Mutter eine gerade gefundene und ganz frisch aufgeplatzte Kastanie als „Dreck“ weggenommen. Dara steckt ihm heimlich eine neue zu. Wie soll man denn Natur als etwas Wertvolles und Schützenswertes erkennen, wenn die Erwachsenen solch ein Vorbild abgeben? Ich fühle mich spontan an Lucy F Jones erinnert. Auch in ihrem Buch „Why our minds need the wild“* geht es darum, dass mit jeder Menschen-Generation mehr Pflanzen und Tiere in Vergessenheit geraten. Wenn wir von den Pflanzen und Tieren um uns herum nicht einmal mehr den Namen wissen, fällt es schwer sie als wertvoll zu erkennen und aktiv den eigenen Lebensstil zu ändern, um diesen unbekannten Wesen zu helfen.
Zwei Seiten weiter greift er den Gedanken erneut auf: „Wenn wir in der Vergangenheit so naturverbunden waren, was lief dann falsch?“
Ich glaube, am Anfang sah es so aus, als wäre es eine Verbesserung mit Plastik anstatt mit der Natur zu leben. Erst nach einigen Jahrzehnten fiel es den ersten auf, dass es gar keine Verbesserung ist. Und, dass Tiere und Pflanzen um uns herum den Preis für die wenigen Verbesserungen der Menschen zahlen müssen.
 * Die Wurzeln des Glücks: Wie die Natur unsere Psyche schützt

Winter
Im letzten Quartal des Buches wird es zunehmend politischer. Zwar vermisse ich noch immer, die wissenschaftlichen Gedanken, aber zumindest erfahre ich nun etwas, das über den Alltag des autistischen Schülers und Vogelbeobachters hinausgeht. „Naturschutz war bei uns ein wichtiges Thema am Abendbrottisch.“Tja, so muss das sein, damit ein Kind eigene Ideen entwickeln kann, sich überhaupt entwickeln kann. In meinem Elternhaus gab es weder Naturschutz noch sonst irgendein Thema am Abendbrottisch. Ich habe daher ein paar Jahrzehnte länger als Dara gebraucht, um Dinge zu lernen, die „eigentlich“ ganz einfach sind und selbstverständlich sein könnten. Der Klappentext berichtet davon, dass Dara für seine Arbeit im Umweltschutz ausgezeichnet wurde. Im Buch schreibt Dara auch mehrfach, dass er einen Vortrag hält oder zu einer besonderen Exkursion eingeladen wurde. Als Leser erfahre ich von diesen Gelegenheiten fast keine Inhalte, aber allerlei Gefühle. Mittlerweile glaube ich, dass dies der entscheidende Punkt ist: Das Buch ist das Tagebuch des Naturforschers. Es ist nicht die Forschung des Naturforschers. Vielleicht würde ich mich mit den Forschungsergebnissen schwertun und nicht alle verstehen. Ich weiß ja nicht einmal, was eine Wiesenralle ist. Noch kenne ich die ornithologischen Unterschiede zwischen Dohlen und Raben. Trotzdem würde ich gerne davon etwas lesen. Ich möchte nicht nur wissen, wie er sich nach dem Vortrag gefühlt hat, sondern auch, um was es in dem Vortrag ging.

„Worte sind manchmal einfach zu leicht.“ (Dara über die Rede des Umweltministers.)
Er hat völlig recht damit. Schnell durchschaut Dara, dass die Jugendlichen nur als Mogelpackung zu den Veranstaltungen der Erwachsenen eingeladen werden. „Die Stimme der Jugend“ wird zwar gehört – aber dann passiert nichts.
„Die Jugendlichen“ verstehen ganz leicht, wie komplex die Welt um uns herum ist, dass alles miteinander verwoben ist und dass Lösungen nicht einfach werden. Und dann müssen sie zusehen, wie die angeblich erwachsenen Politiker oder machtvolle Konzerne ihre Interessen in grüne Worte hüllen aber dahinter weiter nach dem eigenen Profit und nichts anderem streben:
Der Machtkampf zwischen Großorganisationen, Wirtschaft, Entwicklern und den Arten, mit denen wir unseren Planeten teilen, gerät dermaßen außer Kontrolle, dass man sich leicht überfordert, deprimiert und entfremdet fühlen kann.

Daras Buch
Das Buch ist wirklich ein Tagebuch. An vielen Stellen ergänzen Daras Gedanken und Gefühle die Naturbeschreibungen. Mich beeindrucken Formulierungen, die gleichermaßen lyrisch wie surreal sind.
Im Wasser blubbern Methanblasen, die mich an Folklore denken ließen, an Irrlichter und Banshees, Todesfeen, an rote Blitze, die auf verrottendem organischem Material tanzten.
Ich bin verwundert aber auch sehr froh darüber, dass ein Buch mit solcherlei Sätzen einen Verlag und ein Publikum findet. Wenn ich selbst solche Sätze schreibe, ernte ich mürrisches Unverständnis über mein unklares Geschreibsel.

„In einer so schnelllebigen, wettbewerbsbestimmten Welt brauchen wir ein Fundament. Wir müssen den Erdboden spüren und Vögel singen hören. Wir müssen unsere Sinne gebrauchen, um in der Welt zu sein. Vielleicht, wenn wir unsere Köpfe lange genug gegen Wände schlagen, stürzen sie ein. Und vielleicht können die Trümmer dazu genutzt werden, etwas Besseres zu bauen, etwas Schöneres, das unser eigenes Wildsein ermöglicht und zulässt.“
Eine gelungene Zusammenfassung dieses vielschichtigen Buches. Die Natur, ganz gleich ob Berge, Gewitterregen oder Wiesenralle, kann uns die nötige Erdung geben, um wieder in ein Gleichgewicht zu kommen, das für alle Wesen auf diesem Planeten einen Platz lässt.

Dara beschäftigt sich mehrfach mit der Frage, was er alleine erreichen kann, ob seine Meinung das nötige Gewicht hat und wie er als Autist sich in sozialen Gruppen einbringen kann. Im Laufe des Buches wird für Dara als Autor, aber auch für mich als Leser immer klarer, dass jeder nur mit seinen ureigenen Stärken arbeiten kann. Jedes „So sein wollen wie ein anderer“ führt in eine Sackgasse. Ganz egal wie besonders das Vorbild und wie sinnvoll das Ziel ist.
„Ich selbst sein reicht“
Was für ein wunderbarer Gedanke. Für mich einer der Kernsätze des Buches!


[1] Alle Zitate nach Dara McAnulty „Tagebuch eines jungen Naturforschers“, Piper Verlag GmbH, München 2021


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