Zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe ich Alexander von Humboldt bei einem Museums-Besuch. Dort hingen einige Schautafeln seiner Südamerika-Reise. Überall wird von „Reise“ gesprochen. „Lebensbedrohliche Expedition“ wäre allerdings die passendere Beschreibung. Mit einer Reise im heutigen Sinne hat das, was Humboldt von 1799 bis 1804 getan hat wenig zu tun. Offiziell ist Humboldt eine Art Kundschafter des spanischen Königs. So ein bisschen wie die Trapper im Wilden Westen. Der spanische König wusste selbst nicht so genau, was ihm in Südamerika alles gehört und was sich damit machen lässt. Er beauftragt daher Humboldt die Gegend zu erkunden. Bei seiner Abreise wusste Humboldt weder, wohin er fahren würde noch wann er wieder zurückkehrt. Zudem gab es auch in Europa zahlreiche Kriege der verschiedenen Könige. Es war nicht einmal klar, in welches Heimatland er zurückkehren würde. Erst 5 Jahre später und nach einem Umweg über die USA ist er wieder zu Hause.
Trotz dieser Wagnisse hatte Alexander von Humboldt schon sein ganzes Leben lang auf solch eine Chance gewartet. Im Juli 1799 kommt er im heutigen Venezuela an. Nach ein paar Wochen atemloser Sammelei von Eindrücken und Objekten beginnt er einen ersten Abstecher entlang der Küste. Eigentlich soll die Reise ins Landesinnere gehen, aber Humboldt macht gerade mal so eben 150 Kilometer Umweg, um noch einen bestimmten See zu besuchen. Wohlgemerkt, er reist zu Fuß mit 4 Maultieren für all seine Instrumente, Unterlagen und Notizen. Am See angekommen diskutiert er mit den Einheimischen die schädlichen Folgen der Waldrodung.
Wie, Humboldt diskutiert 1799, also vor über 200 Jahren, über die schädlichen Folgen der Waldrodung? Ja, das machte er tatsächlich. Während wir noch heute so tun, als hätte der Klimawandel mit uns Menschen gar nichts zu tun, ist es für Humboldt offensichtlich, dass durch die Waldrodung die Bodenqualität und das regionale Klima verschlechtert wird.
Mich beeindruckt seine Fähigkeit, in einzelnen und voneinander unabhängigen Bausteinen das Gemeinsame zu erkennen und daraus etwas Neues und Ganzheitliches zu formulieren. Die Beziehungen der Dinge untereinander sind ja alle da, auch wenn es bis heute nicht selbstverständlich ist, diese Beziehungen zu erkennen. Mit den aktuellen Diskussionen zum Klimawandel rücken Vordenker wie Humboldt wieder neu in unser Bewusstsein. Ein Gletscher in Grönland oder ein Brand im Amazonas stehen in Beziehung zu Menschen, Tieren und Pflanzen, die viele Kilometer davon entfernt sind. Alexander von Humboldt war einer der ersten dem klar wurde, dass die Welt um uns herum nicht nur leblose Materie ist, sondern lebendig und beseelt und weltweit vernetzt.
Vieles, was ich mittlerweile über Humboldt weiß, kenne ich zuerst aus Andrea Wulfs Buch „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ und dann später aus zahlreichen Sendungen des Deutschlandfunks. Es ist unglaublich, mit welchem Schwung, mit welcher Leichtigkeit und mit welcher Detailbegeisterung Andrea Wulf durch das Leben von Alexander von Humboldt fegt. Für jede noch so kleine Begebenheit hat sie die passende Referenz parat und allein die Anmerkungen füllen 150 eng bedruckte Seiten.

Über 200 Jahre und einige tausend Kilometer entfernt im Garten sitzend, lässt Andrea Wulf mich an Humboldts Erlebnissen teilhaben, als wäre ich dabei. Mir ist durch Humboldt neu klar geworden, dass vieles von dem, was uns heute selbstverständlich ist, irgendwann einmal entdeckt, erfunden oder zumindest zum ersten Mal gedacht werden musste. Humboldt hat in einer Zeit gelebt, dies stattgefunden hat. Für mich selbstverständliche Dinge, zum Beispiel dass die Baumgrenze immer weiter sinkt, je weiter man nach Norden fährt. Auch so etwas ist eben nicht selbstverständlich. Zur Zeit Humboldts bewegten sich die Menschen mit Postkutschen. Entsprechend klein war der geografische Radius der eigenen Erfahrungen. Nur wenige, hatten wie Alexander von Humboldt die Möglichkeit Pflanzen in den Alpen und in den Anden mit eigenen Augen zu sehen, und ihre Ähnlichkeit zu erkennen.
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Zurück von seiner Südamerika-Expedition plante er nicht nur neue Reisen, sondern war auch allabendlich auf mindestens zwei verschiedenen Gesellschaft, um seine Ideen vorzustellen und Kontakte zu knüpfen. Zuerst lebte er hauptsächlich in Paris. Erst zwanzig Jahre nach seiner Südamerika-Expedition kehrte er 1827 nach Berlin zurück. In Berlin hielt er zusätzlich noch öffentliche Vorträge. Diese Vorträge waren gleich in mehreren Punkten revolutionär:
(1) Sie wandten sich an alle Schichten. Und es kamen alle Schichten, vom Gelehrten bis zum Dienstboten. Der Andrang war so groß, dass es regelmäßig zum Verkehrschaos kam.
(2) Sie waren kostenlos. Damit konnte sich jeder Bildung leisten.
(3) Es waren auch Frauen zugelassen. Die Berliner Universität war erst 1809 gegründet worden. Frauen durften dort weder studieren noch Vorlesung als Gast anhören.
In seiner restlichen freien Zeit – woher auch immer, er diese noch nahm – verarbeitete er seine Erlebnisse und Erkenntnisse zu immer wieder neuen Büchern. Dabei schrieb er sowohl auf Deutsch, als auch auf Englisch und Französisch. Die Anzahl und Reihenfolge der Bücher ist bis heute nicht vollständig klar.
Ob man Alexander von Humboldt einen Nature Writer nennen möchte, hängt wie so oft von der Definition des Nature Writings ab. Er beobachtet die Natur um sich herum, zog aus diesen Beobachtungen Schlüsse für Natur und Mensch und schrieb über diese Eindrücke seine Bücher. Nan Shepherd oder John-Lewis-Stempel machen nichts anderes. Bei Alexander von Humboldt sind diese Beobachtungen oft mit naturwissenschaftlichen Messungen verbunden. Aber es sind trotzdem keine Laborjournale, die nur Temperatur, Luftdruck und andere Messwerte jedes Reisetages auflisten. In einer Zeit, in der immer mehr Einzelwissenschaften entstanden, war Humboldt die ganzheitliche Betrachtung der Natur wichtig. Neben wissenschaftlichen Daten, zog er auch Kunst, Geschichte, Poesie und Politik mit ein. So schreibt er bereits 1808 in einem seiner Werke, dass der Kolonialismus eine Katastrophe für Mensch und Umwelt ist und erkennt, dass indigene Völker weder Barbaren noch Wilde sind.