
Bei meiner Beschäftigung mit dem Nature Writing begegnet mir immer wieder der Hinweis auf Alexander von Humboldt und sein Buch „Ansichten der Natur“. Thoureau und Emerson betonen, dass Humboldt eine neue und ganzheitliche Sichtweise der Natur aufzeigt. Ich möchte verstehen, was an diesem Buch so besonders ist, und fange an zu lesen…
Laut Klappentext war Ansichten der Natur Humboldts Lieblingsbuch und zugleich sein erfolgreichstes. „Mit den 1808 erstmals erschienenen »Ansichten der Natur« liefert Humboldt den Beweis, dass sinnliche Erfahrung der Natur und wissenschaftliche Erkenntnis kein Widerspruch sein muss.“ [1]
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Das klingt vielversprechend und erinnert an Andrea Wulfs Beschreibungen in „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“: Humboldt als ein Naturwissenschaftler und Forschungsreisender, der sich nicht nur an messbaren Fakten orientiert hat. Doch beim tatsächlichen Lesen von „Ansichten der Natur“ stolpere ich bereits beim Vorwort.
„Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt, sind die Zwecke, nach denen ich strebe“
Ähm ja, und was heißt das nun genau? Ich habe den Eindruck, ich werde einen Übersetzer für diesen 200 Jahre alten Text brauchen.
Obwohl es dieses Vorwort gibt, das in den Text einleiten könnte, stehe ich fragend vor dem ersten Text über Steppen und Wüsten. Hat das Buch eine Systematik, eine Ordnung ein Thema? Humboldt hebt an zu einer zehnzeiligen Naturbeschreibung. Dann springt er von den Wüsten Afrikas zu den Heideflächen des Nordens, während er zwischendurch immer wieder zu seinem eigentlichen Gegenstand, den Llanos von Caracas zurückkehrt. Um dem Text zu folgen braucht es einen guten Atlas, eine umfassende Allgemeinbildung in Geografie oder einen Internetanschluss. Welcher der damaligen Leser konnte diesem universellen Wissen, das durch jeden Satz blitzt, folgen? Oder war es damals normal den Wadi Nun genauso zu kennen wie die nomadischen Tibbos? Humboldt mäandert innerhalb jedes seiner Absätze ebenso umher, wie die einzelnen Absätze mal diesen und mal jenen Teil der Welt beschreiben. Asiatische Krautsteppen folgen übergangslos auf die Wüsten Afrikas und gehen dann zu Hunnischen Kriegsheeren an der Wolga über, um sich im nächsten Absatz wieder in Caracas einzufinden. Als heutiger Leser habe ich den Eindruck, dieses Buch versammelt alle Gedanken und Ideen, die Humboldt mal loswerden wollte. Alles hat irgendwie mit seinen Forschungsreisen zu tun, aber wenn er noch eine Reise nach Grönland gemacht hätte, kämen bestimmt auch die Eiswüsten vor.
Meine Schwierigkeiten mit Humboldts Schreibstil führe ich auch auf die Entstehungszeit des Buches zurück. Der Text ist mittlerweile 200 Jahre alt. Ich lese in meinem Alltag recht wenige so alte Texte. Als ich dann das Bücherregal entlang suche, bin ich überrascht, wie viele Bücher aus dem 19. Jahrhundert sich dort finden. Dabei entdecke ich auch die „Reisebilder“ von Heinrich Heine. Das Buch ist aus der gleichen Zeit wie Humboldts Ansichten der Natur und enthält mit dem Kapitel „Harzreise“ die Beschreibung einer Region, die ich aus eigenem Erleben kenne. Ich bin gespannt alsbaldigst die Harzreise noch einmal zu lesen.
Nach und nach erinnere ich mich daran, dass Humboldt im Zeitalter der Postkutschen lebte. Es gab weder Deutschland noch die USA als Länder, wie wir sie heute kennen. Im Erscheinungsjahr des Buches bestand die sogenannte USA aus einigen Staaten an der Ostküste Nordamerikas. Das Territorium zwischen USA und Mexiko war unbekanntes Niemandsland. Die Westküste war noch nicht von europäischen Siedlern erreicht worden. In dieser Zeit schreibt Humboldt ein Buch, das die Steppen und Wüsten der gesamten Welt zu einander in Beziehung setzt. Dieses Buch ist quasi Google Maps des 19. Jahrhunderts.
„Es ist ein belohnendes, wenngleich schwieriges Geschäft der allgemeinen Länderkunde, die Naturbeschaffenheit entlegener Erdstriche miteinander zu vergleichen …“
Vielleicht ist es genau dies, was das Buch damals ausmachte, und was Humboldts Stärke ist. Es war selbst dem interessiertesten Beobachter 1808 nicht möglich die Regionen der Welt so kennenzulernen und zu vergleichen, wie Humboldt es macht. Humboldt verblüfft immer wieder damit, wie er die einzelnen Beobachtungen miteinander in Beziehung setzt und Schlüsse daraus zieht. Er hat durch seine Reisen mehr Landschaften, Pflanzen und Tiere erlebt als alle seine Zeitgenossen. Diese Erfahrung alleine ist schon beeindruckend. Doch das Besondere an Humboldt ist seine Fähigkeit aus diesen Einzelheiten, völlig neuartige Schlüsse zu ziehen.
„Ansichten der Natur“ hilft dabei zur verstehen, was für Humboldt und den damaligen Leser der aktuelle Stand des Wissens war. Für den heutigen Leser bietet es dagegen nur wenig. Die Rückblicke und Zusammenfassungen sind oft deutlich klarer und verständlicher als der eigentliche Text. Mehrfach denke ich „Ach das ist es was er sagen wollte“. Es gibt durchaus einige besondere Anekdoten und auch manch Wissenswertes, doch insgesamt ist es eher mühsam zu lesen. Ich bin froh, in Andrea Wulf eine Übersetzerin gefunden zu haben, der es gelingt die Ideen und Erlebnisse Alexander von Humboldts so zu schildern, dass sie für mich heute verständlich sind. Ohne ihre Erläuterungen hätte ich nur ein Bruchteil von dem, was Humboldt so besonders macht verstanden.
[1] Alle Zitate nach: Alexander von Humboldt „Ansichten der Natur“, Nikol Verlagsgesellschaft 2019.