Heinrich Heine „Reisebilder erster Teil: Die Harzreise“ – Ein frühes Beispiel für Nature Writing?

Im Jahre 1824 macht Heinrich Heine eine ausgedehnte Reise von Göttingen über den Brocken im Harz nach Weimar [1]. Der Rückweg führt ihn über Eisenach und Kassel zurück nach Göttingen. Eine Strecke von etwa 500 Kilometern. Einen Teil davon fährt er mit der Postkutsche, aber weite Strecken geht er zu Fuß. Den Anfang der Reise verarbeitet er zu der dem 1826 erschienenen Reisebild „Die Harzreise“.  

Damit ist „Die Harzreise“ in etwa zur gleichen Zeit erschienen wie Alexander von Humboldts „Ansichten der Natur“ (1808). Beide Bücher beschäftigen sich dem Titel nach mit der Natur an sich oder zumindest mit einer Fußwanderung durch die Natur hindurch. Für mich stehen zwei Fragen im Vordergrund:
1. Ist Heines Harzreise ein frühes Beispiel für Nature Writing?
2. Ist Heines Harzreise aus heutiger Sicht ähnlich schwer oder zumindest ungewöhnlich zu lesen, wie Humboldts Ansichten der Natur?

Heine beginnt seine Reisebeschreibung am Ortsausgang von Göttingen. Dort ruft er der Stadt allerlei spaßige Beschimpfungen zu. Als das geschafft ist, wendet er sich in Richtung Norden. Seine erste Etappe führt ihn über Bovenden und Nörten nach Northeim. Vom Weg dorthin erfährt der Leser solche Dinge wie:
„Hinter Nörten stand die Sonne hoch und glänzend am Himmel. Sie meinte es recht ehrlich mit mir und erwärmte mein Haupt, dass alle unreifen Gedanken darin zu Vollreife kamen.“ [2]
Das klingt recht lustig und Heine macht von solcherlei Wendungen reichlich Gebrauch. Sonst erfährt der Leser wenig über die Landschaft zwischen Göttingen und Northeim. Auch die 22 Kilometer von Northeim nach Osterode schrumpfen auf die Bemerkung zusammen, dass es hinter Northeim schon gebirgig wird.

Beim Lesen muss ich immer wieder Spezialausdrücke des damaligen Studententums nachschlagen, um den Text zu verstehen. Für Heine war es offensichtlich selbstverständlich, dass der Leser damit zurechtkommt. Entweder waren Begriffe wie Philister ( = Mitglied einer Studentenverbindung nach Ende des Studiums) so geläufig, dass sie keiner Erklärung bedurften oder Menschen außerhalb der akademischen Welt kamen als Leser von vornherein nicht in Frage. Auch auf der Reise selbst fällt auf, dass das normale Volk eher zur Belustigung oder als Lückenfüller dient.

Während die Begegnungen in den verschiedenen Gasthäusern und sogar seine nächtlichen Träume ausführlich geschildert werden, tauchen Beschreibungen der Landschaft nur alle paar Seiten für wenige Zeilen auf. Die Beschreibungen der Bergwerke Carolina und Dorothea in Clausthal sind die ersten längeren Naturpassagen. Über den Weg von Clausthal nach Goslar …
„Ich hob meine Füße auf und ging  nach Goslar. Ich kam dahin, ohne zu wissen wie.“
… berichtet er zwar ganz allgemein, dass silberne Wasser rauschen, süße Vögel zwitschern und die blauseidene Decke des Himmels durchsichtig ist, aber ist das wirklich eine Beschreibung der Natur um ihn herum? Dass ihm auf seinem Weg rotblühende Disteln begegnet sind, erfährt der Leser nur aus der Schilderung eines nächtlichen Albtraumes. Auch der weitere Weg von Goslar zum Brocken – je nach Wegführung zwischen 25 und 30 Kilometer und fast 1000 Höhenmeter Aufstieg – bleibt ohne nähere Beschreibung.

Erschöpft am Brocken angekommen, sorgt er sich als erstes um ein gutes Nachtlager. Es gelingt ihm, so kränklich auszusehen, dass der Wirt ihm ein Bett statt des befürchteten Strohlagers anbietet. Solchermaßen genesen, erklimmt er den Aussichtsturm. Seite über Seite berichtet er vom Gespräch mit einer alten und einer jungen Dame und später noch ausführlicher den Austausch mit anderen Studenten. Das ebenfalls seitenlang geschilderte Abendessen wandelt sich zu einem wilden Saufen und Grölen. Nach der Übernachtung auf dem Brocken, führte Heines Weg weiter in Richtung Ilsenburg. Das Buch endet am Ilsenstein. Die tatsächliche Wanderung Heines ging weiter bis nach Weimar, wo er hoffte, Goethe treffen zu können. Es ist erstaunlich, welch weite Strecke Heine dabei ohne Zögern zu Fuß bewältigte.

Ist Heines Harzreise ein frühes Beispiel für Nature Writing?
Heine nutzt den Weg von Göttingen nach Ilsenburg, um seinen Unmut über sein Studium, die Studenten und überhaupt alle Menschen in Worte zu fassen. Die einzelnen Stationen der Reise dienen ihm als Aufhänger für alle seine kleinen Geschichten. Dies wird für mich auch daran deutlich, dass an keiner Stelle gesagt wird, weshalb er eigentlich unterwegs ist. Der offizielle Zweck der Wanderung, bleibt unklar. Als Heine in Ilsenburg alle seine Anekdoten erzählt hat, endet sein Buch. Statt „Die Harzreise“ könnte das Buch auch „15 Anekdoten, die mir beim Wandern einfielen“ heißen. Die Harzreise ist ein Reisebild ohne Reisebeschreibung. Heine bewältigte seinen Weg von Göttingen nach Weimar über große Strecken zu Fuß. Dies war damals das gängige Fortbewegungsmittel. Dass der Weg dabei durch die Natur führte, bedeutet nicht, dass der Wanderer an der Natur Interesse hatte oder diese mehr als nötig beschrieb.

Ist Heines Harzreise aus heutiger Sicht ähnlich schwer oder zumindest ungewöhnlich zu lesen, wie Humboldts Ansichten der Natur?
Ich greife erneut zu Humboldts „Ansichten der Natur“. Ich bin überrascht, wie klar und verständlich Humboldts Text plötzlich ist. Ich brauche zwar einen Weltatlas, um Flüsse, Wüsten und Regionen zu unterscheiden, aber es ist so erfrischend Heines muffiges Geschimpfe hinter mir zu lassen.


[1] Zahlreiche historische Anmerkungen zu Heines Harzreise finden sich gut aufbereitet auf der Internetseite der Göttinger Literarischen Gesellschaft

[2] Alle Zitate nach: Heinrich Heine „Reisebilder“, insel taschenbuch, erste Auflage 1980.


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