
„Die Reise um meinen Garten“ ist ein Roman in 66 Briefen. Der Erzähler Stephen ist überrascht und anfangs auch verärgert, dass sein Freund zu einer weiten Reise aufbricht. Um es dem Freund nachzutun und selbst auch zu verreisen, begibt sich Stephen auf eine Reise durch seinen Garten. Dabei entdeckt er viel Wundersames und ist überzeugt, dass die Ferne nicht exotischer sein kann als die verschiedensten Tiere und Pflanzen direkt vor der Haustür.
Auch dies ist „Schreiben in und über die Natur“. Ein frühes Beispiel, das in der Liste der „üblichen Verdächtigen“ des Nature Writings nicht auftaucht. Etwa zur gleichen Zeit schreiben Alphonse Karr (1845) und Henry David Thoreau (1854) über die Natur. Beide schimpfen sie auf die Menschen um sie herum und doch könnten die Texte nicht unterschiedlicher sein.
1 „Erinnern Sie sich, mein Freund an den Tag an dem Sie aufbrachen?“ [1]
Es beginnt mit der Verärgerung des Erzählers Stephen über seinen Freund, der plötzlich zu einer weiten Reise aufbricht. Stephen trifft dieser Aufbruch völlig unvorbereitet. Dem geschilderten Aufwand nach (Reiskutsche, Wechselpferde und vorausreitender Bote), ist die Reise kein spontaner Entschluss. Was ist dies für eine Freundschaft, bei der einer nicht weiß, dass der andere zu einer langen Reise aufbricht, ja der zu Hause Bleibende sich nicht einmal verabschieden kann, so sehr ist der gesamte Hausstand des Reisenden in Aufruhr?
Stephen bleibt verärgert und ratlos zurück. Ein wenig neigt der Erzähler zur Übertreibung, wenn er sagt, dass er nicht wüsste, wohin auf der Welt er jetzt gehen könnte. „Ich werde also immer wie diese Ziege sein, die mitten in einem Feld an einem Pflock angebunden ist“ so jammert er vor sich hin, weil er sich keine solche Reise leisten kann.
Von seinem Wohnzimmer aus beobachtet er am gleichen Abend den Sonnenuntergang. Lyrisch und detailreich beschreibt er die einzelnen Wolken und deren Farben. In diesem Moment wird ihm klar, dass er in Ruhe diesen Sonnenuntergang genießen kann, während der reisende Freund gerade einmal 20 Meilen weit gekommen ist, in einer holprigen Kutsche sitzt und gewiss diesen Anblick nicht mit der gleichen Muße wird genießen können.
2 „Machen sie ihre Reise um die Welt. Ich werde die Reise um meinen Garten machen.“
Am nächsten Morgen beobachtet Stephen eine Spinne, die ihr Netz repariert und dabei mühelos über die eigenen Fäden läuft, während das Netz kurze Zeit später wieder zur todbringenden Falle für Fliegen wird. Auch eine männliche Spinne nähert sich dem Netz. Die männliche Spinne ist viel kleiner und kann jederzeit gefressen werden. Der Erzähler füllt seine Beobachtungen mit vielerlei Bildern über die Liebe, Theseus und was weißichnichtalles. Puh! Die viel zu vielen verschlungenen Anekdoten blähen den Text sehr auf. Aber die Beobachtung der Spinne ist wirklich gelungen und obendrein lehrreich. Für Stephen ist es der Beginn seiner ganz eigenen Reise. Eine Entdeckungsreise durch den seinen Garten. An seinen Freund schreibt er: „Machen sie ihre Reise um die Welt. Ich werde die Reise um meinen Garten machen.“
An einem weiteren Morgen, als die aufgehende Sonne die Hauswand mit gelbem Licht überflutet sitzt er neben seiner Glyzinie und wähnt sich im Heimatland der Pflanze, China. Das ist eine Fantasie, die es unbedingt nachzuahmen gilt. Während er diesen Morgen genießt, beobachtet er eine Goldwespe. Er bedauert keine prächtigeren Worte als smaragdgrün und rubinrot zu wissen, um das Tier zu beschreiben. Eine kurze Suche im Internet zeigt tatsächlich eine seltsam halb grün und halb rot gefärbte Wespe. Sowohl rot als auch grün sind so leuchtend schillernd, dass ich Stephen gut verstehen kann, der nach einem besseren Wort als smaragdgrün sucht.
In gleichem Detailreichtum und Faszination beschreibt er weitere Tiere wie den Ameisenlöwen, ein Insekt, das nur rückwärts laufen kann und sich in einem Trichter eingräbt, um dort auf Beute zu warten. Oder auch den gesamten Lebenszyklus von Gallinsekten. Das hätte ein heutiges youtube Lehrvideo nicht besser gekonnt.
Oft nutzt er seine Beobachtungen, um in einer Art Wettstreit, von dem nur er weiß, dem reisenden Freund zu beweisen, dass es zu Hause viel abenteuerlicher ist als in der fernsten Ferne. Vom reisenden Freund hingegen, der nicht einmal einen Namen hat, wird nicht gesagt, ob er in irgendeiner Weise reagiert oder an diesem Wettlauf um die unerhörteste Begebenheit Interesse hat. Daher bestärkt Stephen mit jedem neuen Beweis seiner exotischen Entdeckungen im eigenen Garten, den Vorwurf, den er so gerne von sich weist: Dass er alles dies nur schreibt, weil er weiterhin neidisch auf den Freund ist. Der Freund reist in der physischen Welt umher, während Stephen „nur“ in Gedanken und Beobachtungen verweilt.
„Ob Sie etwas abenteuerlicheres erlebt haben? Sie werden es nicht wagen eine so absurde Lüge zu erfinden, wie es die wahre Geschichte der Gallinsekten ist.“
3 Menschen finden in Stephens Reisebericht meist keine wohlwollende Betrachtung
Schon in seinem anfänglichen Ärger über den abreisenden Freund stellt Stephen die „Wilden“ den gesitteten Europäern gegenüber. Er zählt allerlei Unterschiede auf, die seiner Meinung nach aber gar keine sind: Ringe in der Nase statt den Ohren. „Warum ist so viel komischer den einen Knorpel zu durchstechen als den anderen?“
War Alphonse Karr vor fast 200 Jahren wirklich so fortschrittlich, dass er „Wilde“ als gleichrangig mit den Damen der Gesellschaft betrachtet hat? Immerhin gelingt ihm die Abstraktion, dass Farbe gleich Farbe ist, auch wenn die eine sie bunter oder kräftiger verwendet als die andere.
Der einzige Mensch, den Stephen zumindest so lange achtete, so lange er kaum etwas von ihm wusste, ist ein benachbarter Holzfäller. Stephen sieht von seinem Garten aus, das halbverfallene Haus des Holzfällers und freut sich an den Blumen die auf dem Strohdach wachsen. Aber nun hat der Holzfäller etwas Geld geerbt und ist in die Stadt gezogen.
„Er ist reich geworden“, lästert Stephen, um damit zu betonen wie dumm es ist, mit Geld in die Stadt zu ziehen und den Reichtum der Natur zu verlassen. Vielleicht hatte der Holzfäller einfach keinen Diener, der jeden Morgen das Frühstück bringt, und sein Geld reichte zwar für eine Wohnung in der Stadt, nicht aber für ein neues Dach?
In diesem Punkt ähnelt Stephen tatsächlich dem berühmten Thoreau, der ebenfalls für sich alleine in einer Hütte sitzt, die Details und Stimmungen der Natur um ihn herum beobachtet und auf die Dummheit aller anderen Menschen schimpft.
4 Stephen wartet auf Godot
Irgendwann kommt auch der reisende Freund zurück nach Hause. Doch abermals verpasst Stephen die Begegnung, weil der Freund sofort nach Paris weiterreist. Zwingender Geschäfte wegen. Damit hat der reisende Freund etwas von Samuel Beckets Godot. Beide bestimmen das gesamte Buch, kommen aber selbst nicht vor.
Nicht einmal einen Namen und schon gar kein Reiseziel hat dieser Freund. Ob er die zitierten Wilden oder Indios je gesehen hat oder nur über die Alpen nach Italien reist, bleibt unklar.
Die Idee zu der Reise um den eigenen Garten ist genial und die Naturbeschreibungen sind unbedingt lesenswert. Dies sind die Momente, in denen mir dieses Buch gefällt. Allerlei andere Momente, die ich einfach nur mühsam, übertrieben, jammerig oder konstruiert finde, gibt es jedoch auch. Nachdem der angebliche Freund abreist und den Anstoß zu Stephens Gartenreise gibt, hätte es keine weitere Erwähnung dieses Freundes bedurft.
[1] Alle Zitate nach der Lesung im Bayerischen Rundfunk