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Im Vorwort beschreibt Helen Macdonald den Begriff der Wunderkammer: Im 16. Jahrhundert in Mode gekommene Sammlungen von sehr unterschiedlichen Dingen, die gemeinsam in einem verzierten Holzkasten aufbewahrt wurden und von den Betrachtern nicht nur von Ferne angesehen wurden (wie in heutigen Museen), sondern mit allen Sinnen ertastet, erfühlt und gewogen wurden. Genau solch eine Wunderkammer soll auch das Buch Abendflüge sein. Eine bunte Mischung aus allerlei Geschichten, Gedanken, Forschungsergebnissen und Literaturzitaten.
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Ärgerlicherweise will der Verlag für diese Wunderkammer auch die Leser von „H wie Habicht“ ködern, obwohl das neue Buch ein ganz anderes ist. Oder denjenigen, die „H wie Habicht“ immer noch nicht gelesen haben, ein weiteres Mal deutlich machen, dass sie nun endlich ihre Groschen für eines der Bücher hinzählen sollen. Daher gibt es einen fetten „Von der Autorin von..“-Aufdruck. Schade, die Abendflüge so mit Marketing zu verhunzen.
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Die Rezension im Deutschlandfunk benennt die Texte als Essays. Ich als Leser sehe es einfach als einen Band mit Geschichten. Ein wenig stolpere ich allerdings über die hohe Zahl an wissenschaftlichen Studien und kommagenauen Messergebnissen. Ja, die Aussagen sollten stimmen und Studien oder Anmerkungen zu den Quellen können gerne in einem guten Anhang sein. Aber bitte nicht in jede fünfte Zeile eine wissenschaftliche Veröffentlichung hineinzerren.
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Ich lese das Buch einfach nur als Leser. Keine Bleistiftanstreichungen. Keine bunten Paginierstreifen. Die Gedanken, die sich dann doch ansammeln, sind eher die Kritzeleien auf der Rückseite von Kassenzetteln. Oder abendliche Philosophie bei einem Glas Wein, während das Buch längst eine Etage höher am Schreibtisch liegt.
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Helen Macdonald hält ihr Versprechen der Wunderkammer. Das Buch ist ein angenehm vielfältiges Sammelsurium aus verschiedensten Themen. Oft ist es überraschend, von was die einzelnen Texte handeln. Oder habe ich schon zu sehr eine konkrete Vorstellung, wie ein Text mit der Überschrift „Nistkästen“ zu sein hat? Ich hätte weder Schwalben in einem indischen Hotelzimmer noch Gedanken über die englische Arbeiterklasse erwartet.
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Es ist kein durchgehendes Buch, das ein Thema von verschiedenen Seiten betrachtet. Jede Geschichte ist ein eigener Text. Die titelgebenden Mauersegler tauchen nur in zwei der 41 Geschichten auf. Mir kommt das Buch dennoch insgesamt als Sommerbuch vor. Wenn man sich für jede der Geschichten zwei Tage Zeit nimmt, reicht es genau aus, um die Zeit von der Ankunft der Mauersegler Anfang Mai bis zu ihrer Abreise in den ersten Augusttagen damit zu verbringen.
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Einfach mal lesen
Auf der Gartenbank sitzen
Seitenblättern
In den Abendhimmel schauen
Mauersegler beobachten
Später dann die Fledermäuse
Lesen von der Natur, ganz
Ohne Thoreau und seine Hütte am Teich
Einfach nur lesen