Wer war Henry David Thoreau?

Henry David Thoreau wird 1817 auf einer Farm in der Nähe von Concord, Massachusetts (USA) geboren. Demnach waren seine Eltern Farmer. Der Vater wird jedoch auch als Bleistiftfabrikant beschrieben. Ab seinem 16. Lebensjahr besucht Thoreau die Universität Harvard im etwa 20 Kilometer entfernten Boston. Das Geld für diese Ausbildung bringen mehrere Unterstützer aus seiner Familie gemeinsam auf. [1]

Thoreau studiert Rhetorik, Klassische Philologie, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften. Die Universität Harvard war bereits 1636 von den ersten Einwanderern gegründet worden und diente dazu, den Bedarf an Geistlichen zu decken. Erst 1900 entwickelte sich Harvard zu einer Universität im heutigen Sinne.

In einem Alter, mit dem heutige Abiturienten ihr Studium beginnen, beendet Thoreau das Studium. Mit 20 kehrt Thoreau nach Concord zurück. Er eröffnet mit seinem Bruder eine Privatschule, aber eigentlich liebt er das Leben in der Natur: „So oft und wann immer seine Arbeit es ihm ermöglichte, eilte er ins Freie, um sein Amt als selbsternannter Inspektor der Schneestürme und Regengüsse zu versehen, um den dämmerigen Morgen und die sinkende Sonne zu überwachen und den Botschaften des Windes zu lauschen“[2] Ab 1840 ist Thoreau mit Ralph Waldo Emerson [3] befreundet, der seit 1834 in Concord lebte. Emerson ist zu dieser Zeit schon ein bekannter Philosoph und Schriftsteller.
Emersons philosophische Gedanken des Transzendentalismus[4] verstärkten Thoreaus Liebe zur Natur sowie den Wunsch, Zeit dort zu verbringen. Gleichzeitig hatte Thoreau nie einen wirklichen Beruf und litt beständig an Geldmangel, da „Landvermessung, Tischlerei und Hilfsleistungen für die Farmer der Umgebung viel Zeit in Anspruch nahmen, aber wenig Lohn brachten.“

Dies war die Ausgangssituation, als Thoreau den Plan fasst sein Leben radikal zu vereinfachen. Im Frühjahr 1845 leiht er sich eine Axt und zieht los, um an einem Teich in der Nähe seines Heimatortes Concord eine Hütte zu bauen. Selbst einen so alltäglichen Gegenstand wie eine Axt musste er sich leihen. „Meine Freunde fragen mich, was ich dort treiben werde? Werde ich nicht genug damit zu tun haben, die Jahreszeiten zu beobachten?“

Mit seinem Lebensstil kann er wahlweise als Selbstversorger oder Permakulturist oder Anhänger des Bedingungslosen Grundeinkommens beschrieben werden. Er ist ein Umweltschützer, der „mit Betrübnis sieht, wie man überall Bäume fällt“. Er lebt überaus sparsam und betont immer wieder, dass ihm einige Wochen Arbeit pro Jahr ausreichen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Gleichzeitig bietet sein Buch für keines dieser Themen eine Anleitung und Thoreau selbst betont, dass er sich nicht als Vorbild sieht, dem andere nacheifern mögen.

„Ich ging in die Wälder, weil ich bewusst leben wollte. Ich wollte das Dasein auskosten. Ich wollte das Mark des Lebens einsaugen! Und alles fortwerfen, das kein Leben barg, um nicht an meinem Todestag Innezuwerden, dass ich nie gelebt hatte.“ [5]

Es ist wohl dieses Zitat, das Thoreau in der Vorstellung vieler Leser zum Einsiedler und Lebensphilosophen werden lässt. Doch so abgeschieden und weltfern, wie das Zitat klingt, war sein Leben nicht. Concord war nicht weit entfernt, die Eisenbahnlinie fuhr zumindest in Hörweite an der Hütte vorbei und Thoreau ging regelmäßig zum Plaudern oder Abendessen nach Concord. Auch arbeitete er nebenher als Tagelöhner bei verschiedenen Farmern. Nach zwei Jahren beendet er recht plötzlich sein Leben in den Wäldern. Er selbst hatte es immer als Experiment beschrieben. Daher ist es verständlich, dass es auch ein Ende hat.

Nach der Rückkehr aus dem Wald wohnt er zuerst Thoreau im Hause Emersons, während dieser auf einer Reise durch Europa ist (1847). Später zieht er in das Haus seiner Eltern (1849). Dort beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Schreiben. 1854 erscheint sein Buch „Walden or Life in the Woods“. Für mich als Leser von „Walden“ mit all seinen Weisheiten über das Leben und obendrein all den Beschimpfungen über Farmer, Einwohner Concords und alle anderen Zeitgenossen, ist es sehr verwunderlich, dass Thoreau nun plötzlich wieder ganz normal in der Stadt lebt. Als 1857 Thoreaus Vater stirbt, muss Thoreau Mutter und Schwester versorgen. Er nimmt daher die schon mehrfach durchgeführte Produktion von Bleistiften sowie die Arbeit als Landvermesser wieder auf.

Wilhelm Nobbe versteht Thoreau als einen Einzigartigen, als jemanden, der keine Vorbilder oder Vorgänger hat, der aber ebenso auch keine Nachfolger hat. Thoreau hat viele Seiten und über alle davon lässt sich lange diskutieren. Viele seiner Ansichten sind allerdings auch sehr widersprüchlich. So ist er selbst ein Farmerskind und arbeitet immer wieder aus Geldnot für andere Farmer und doch fabuliert er seitenweise darüber, wie unglücklich Farmer sind. Alle anderen Berufe und Lebensentwürfe verachtet er jedoch ebenfalls.

Ich sehe Thoreau mittlerweile als jemanden, der sich selbst genug war. Die von Nobbe aufgeworfene Frage nach Vorgängern oder Nachahmern ist für Thoreau also gänzlich unbedeutend. Thoreau verbrachte seine Zeit mit sich selbst und seinen Gedanken. Einige dieser Gedanken sind auch heute, fast 200 Jahre später, noch wertvoll und hilfreich. Anderes ist so widersprüchlich und oft auch überheblich, dass ich nicht sicher bin, ob ich Thoreau hätte begegnen wollen. Neben seiner Naturliebe und seiner Forderung, die Texte der alten Philosophen wie Homer nur im Original zu lesen, ist seine Genügsamkeit eines der wenigen durchgängigen Themen.
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[1] Der Text basiert auf der von Wilhelm Nobbe 1905 verfassten Einleitung zu „Walden oder Leben in den Wäldern“ , Nikol Verlagsgesellschaft Hamburg. 3. Auflage 2017.
[2] Alle Zitate außer [5] nach Henry David Thoreau „Walden oder Leben in den Wäldern“ , Nikol Verlagsgesellschaft Hamburg. 3. Auflage 2017.
[3] Ralph Waldo Emerson (* 25. Mai 1803 in Boston, Massachusetts; † 27. April 1882 in Concord, Massachusetts) war ein US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller.
In seinen zahlreichen Vorträgen, Schriften und Gedichten betonte Emerson in vielfältiger Form seine Forderung nach einer radikalen Erneuerung und geistigen Selbstbestimmung der amerikanischen Kultur und Literatur und begründete damit eine Traditionslinie, die nicht nur die amerikanische Literatur-, sondern auch die Philosophiegeschichte der Vereinigten Staaten (…) maßgeblich beeinflusste. [Wikipedia]
[4] Amerikanischer Transzendentalismus: Die Transzendentalisten traten für eine freiheitliche, selbstverantwortliche und naturzugewandte Lebensführung ein. Von ihnen gingen wesentliche Impulse für die Naturschutzbewegung aus. [Wikipedia]
[5] Dieses berühmte Zitat von Thoreau stammt nicht aus „Walden“. Ich vermute, dass es aus den weit ausführlicheren Tagebüchern stammt.


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