Ralph Waldo Emerson „Natur“

Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882) lebte in Concord, einer Kleinstadt vor den Toren von Boston, Massachusetts, in den USA. Er war ein Unterstützer, Freund und Vorbild für Henry David Thoreau und er war begeistert von Humboldt und dessen Buch „Kosmos“. Emerson sagte über Humboldt: „Humboldt war eines jener Weltwunder, die von Zeit zu Zeit auftauchen, so als wollten sie uns die Möglichkeiten des menschlichen Geistes vorführen.“
Emerson steht also in der Vergangenheit in Beziehung zu den von mir mit großem Interesse gelesenen Thoreau und Humboldt und wirkte zudem, laut Klappentext seines Essays „Natur“[1], als einer der Begründer des Naturschutzes, bis in meine Gegenwart. Daher möchte ich herausfinden, was es mit Emersons Text „Natur“ auf sich hat. Was ist dies für eine Art Text und um was geht es?

1
Bevor Emerson mit dem Thema Natur beginnt, ist es ihm wichtig, eine allgemeine Stellungnahme zum Wesen seiner Zeit vorauszuschicken:
„Unser Zeitalter ist retrospektiv. Es baut die Grabdenkmäler seiner Väter. (…) Frühere Generationen schauten Gott und Natur von Angesicht zu Angesicht; wir jedoch sehen nur mit ihren Augen. (…) Lasst uns darum unsere eigenen Werke, Gesetze und Weisen der Verehrung fordern.“[2]
Diese ersten Sätze wehen wie revolutionäre Fahnen vor dem weiteren Text. Allerdings ohne sich dort noch einmal wiederzufinden.

2
Danach stellt Emerson seine Definition des Begriffes Natur vor. Eine auch nach mehrfachem Lesen nur mühsam verständliche Aufteilung des Universums in Natur und Seele oder auch Ich und Nicht-Ich. Damit ist klar, dass Natur für Emerson etwas anderes ist als eine Sammlung von Wiesen, Felder und Flüssen. Was er jedoch ganz wirklich damit meint, bleibt mir bis zum Ende des Textes verschlossen.
In den weiteren Kapiteln beschäftigt er sich nun mit den verschiedenen Teilaspekten dieser Natur. Er beginnt mit dem Thema Gebrauchsnutzen und stellt sein vollständig mechanisches Welt- und Gottesbild vor. Alles, was den Menschen umgibt, ist (1) von einem Schöpfergott erdacht und (2) von diesem um den Menschen herum, dem Menschen zum Nutzen, ausgebreitet worden.

So sehr Emerson in den folgenden Kapiteln auch weitere Aspekte betrachtet, er bleibt doch diesem Grundverständnis: Die Natur existiert ausschließlich zum Dienste des Menschen. Vom Schutz der Natur ist im ganzen Buch nirgends die Rede. Auch nicht in Andeutungen. Der Nutzen und der Gebrauch der Natur, das sind Emersons Themen. Humboldt hatte dagegen bereits ein Vierteljahrhundert zuvor darauf hingewiesen, wie sehr das Verhalten des Menschen die Natur zu ihrem Nachteil verändert und der Mensch sich mit diesem Verhalten langfristig selbst schädigt.

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Auch im Abschnitt Schönheit bleibt Emerson bei seinem menschenzentrierten Verständnis:
„Die Schönheit der Urformen wie Himmel, Gebirge, Baum verdankt der Mensch seinem Auge. Erst das Auge erschafft aus seiner physiologischen Interaktion mit den Lichtwellen die Schönheit.“
Wusch, die zweite Klatsche für die Natur. Erst erklärt Emerson, dass die Natur nur zum Nutzen des Menschen existiert, wie Lego-Klötzchen aus denen der Mensch gestalten kann, was immer er mag. Und nun ist sie noch nicht einmal aus sich selbst heraus „schön“. Nicht einmal das kann die Natur alleine. Erst die Leistung des menschlichen Auges erschafft die Schönheit der Natur. Nach nur zehn Seiten hat Emerson den Begriff Natur so grundlegend ruiniert, dass ich kaum noch Hoffnung habe, der Rest des Textes könne eine neue Richtung einschlagen und doch noch positives über die Natur an sich sagen.
Bei solch einem Lehrmeister ist es beachtlich, was Thoreau 20 Jahre später in „Walden“ schreibt. Thoreaus Text ist zwar auch sehr philosophisch und ist zudem voll des Selbstlobs, aber er sieht in den Tieren und Pflanzen „seines“ Waldes mehr als Dinge, die ihm nach Belieben zur Verfügung zu stehen haben.

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So selten, dass ich es fast überlese dann plötzlich auch einmal ein Satz, der für sich alleine genommen, etwas Positives über die Bäume und Felder um den Menschen herum sagt:
„Der Kaufmann, der Anwalt kommt aus dem Lärm und der Geschäftigkeit der Straße, sieht den Himmel und die Wälder und ist wieder Mensch.“
Ist das der gleiche Autor, der wenige Seiten zuvor die Tatkraft des Menschen lobt, weil dieser seinen Weg mit Eisen[bahn]schienen pflastert? Ja, es ist der gleiche Autor. Und die wenigen naturfreundlichen Sätze sind die Ausnahmen, die sich als Kalendersprüche aus dem Text herauspicken lassen:
„Für das wache Auge hat jede Zeit des Jahres ihre eigene Schönheit, und in ein- und demselben Feld nimmt es stündlich einen neuen Anblick wahr, der nie zuvor gesehen wurde.“
Habe ich solch einen gelungenen Satz gefunden, hoffe ich, dass sich das Blatt doch noch wenden könnte, dass Emerson jetzt den Bogen zur Wahrnehmung und Bewahrung der Natur findet. Doch er lässt keine Gelegenheit aus, zu betonen, dass er auch für die Schönheit eine ganz eigene Definition verwendet. Schönheit besteht nach Emerson aus den drei Aspekten:
(1) Sichtbare Schönheit („Die Betrachtung natürlicher Formen bereitet Vergnügen“),
(2) Gegenwart des Göttlichen („Die Gegenwart eines höheren, und zwar geistigen Elements ist grundlegend zur Vollendung der Schönheit“) und
(3) Gegenstand des Intellekts („Die Dinge haben außer ihrer Beziehung zur Tugend noch eine Beziehung zum Denken“).
Ich wage es kaum, diese Dreiteilung weiter zu denken: Die sichtbare Schönheit entsteht erst im Auge des Menschen, aber dennoch haben die ohne das Auges des Menschen wertlosen Dinge um uns herum eine Beziehung zum Göttlichen und zum Intellekt. Wie absurd ist das denn? Die Natur schafft es nicht einmal, schön zu sein, aber die Gegenwart des Göttlichen und die Beziehung zum Intellekt kriegt sie hin?
Nach den erschreckenden ersten 15 Seiten passiert nichts Neues mehr. Die gleichen Ideen vom Menschen als Gegenüber der göttlichen Allmacht werden auf immer neue Weise dargestellt. Jedes einzelne Beispiel erschreckt von Neuem, aber es schlägt in die gleiche Kerbe: Gott hat die Natur so geschaffen, dass sie dem Menschen eine Schönheit, Lehre, Erziehung und zu Diensten ist.
„Die Welt existiert, um das Verlangen der Seele nach Schönheit zu stillen.“
„Die Instinkte der Ameise sind völlig unwichtig.“
„Die Natur ist erschaffen, um zu dienen.“
Nach und nach fällt es schwer, diese 100%-ge Menschenzentrierung überhaupt nur zu lesen. Da gibt es nichts, das der Natur einen Sinn, eine Bedeutung oder auch nur eine Daseinsberechtigung gibt, außer diesem einen Grund, dem Menschen zu dienen.

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Erst gegen Ende des Textes bringt Emerson noch einmal einen gänzlich neuen Gedanken mit ein:
„Doch während wir die Dauerhaftigkeit der Naturgesetze als gegeben hinnehmen, bleibt immer noch die Frage nach der absoluten Existenz der Natur offen.“
Sätze wie dieser machen deutlich, dass Emerson mit Natur nicht die Wälder, Flüsse, Wolken die uns umgeben meint, sondern sich auf die von ihm in der Einleitung vorgestellte philosophisch-geistige Definition des Nicht-Ich bezieht.

6 Fazit
Der Essay „Natur“ von Ralph Waldo Emerson ist zuallererst ein philosophischer Text.
Die Einleitung und das erste Kapitel (Natur) lassen sich lesen. Mit dem zweiten Kapitel (Gebrauchsnutzen) beginnt er spooky zu werden.
Der Schutz der Natur ist Emerson völlig fremd. Die einzige Aufgabe der Natur ist es, dem Menschen zu dienen. Letztlich kann er sich nicht einmal darauf festlegen, ob die Welt um ihn herum, sei es nun Natur oder Landschaft oder Universum, wirklich existiert.
Leute lest die Originaltexte und lasst Euch nicht erzählen Emerson wäre ein Naturschützer!


[1] Ralph Waldo Emerson „Natur“, Reclam Verlag 2019, Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19517.

[2] Alle Zitate nach [1]


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