Annie Dillard „Pilger am Tinker Creek“

Annie Dillard wird 1945 im amerikanischen Pittsburgh geboren. Sie studiert Anglistik und schreibt 1968 ihre Abschlussarbeit über Henry David Thoreaus „Walden“(1). 1971 beschließt sie nicht nur „über“, sondern „wie“ Thoreau zu schreiben. Dafür sitzt sie in ihrem „anchor-hold“. So werden Eremitenklausen in ihrer Heimat, den Blue Ridge Mountains im amerikanischen Bundesstaat Virginia, genannt. Ihr Buch „Pilgrim at Tinker Creek“(2) bezeichnet sie selbst als meteorologisches Tagebuch der Seele.

Ich bin gespannt, welche Gedanken und Erlebnisse diese so sehr ähnliche Ausgangssituation 120 Jahre nach Thoreau hervorbringt. Ich möchte daher mehr erfahren über diese Nachfolgerin Thoreaus und ihr Buch. Ich lese zuerst Rezensionen und Kommentare und dann das Buch selbst. Ich lese die 2016 erschienene Ausgabe im Verlag Matthes & Seitz. Der erste Eindruck: Das Buch fühlt sich gut an. Ein Taschenbuch mit Leinenbezug. Ich streiche sanft mit der Hand über den Einband, bevor ich eine Kanne Tee koche und mich mit dem Buch an den Kamin setze. Es ist Winter, als ich das Buch beginne (2020). Nach zwei einleitenden Kapiteln beginnt auch Annie Dillard ihren Bericht mit dem Winter.

Auf den letzten Blättern des Buches finden sich je ein Kommentar der Übersetzerin und ein erläuternder Essay. Der Essay sagt mir, dass Annie Dillard gar nicht in der Wildnis war, sondern am Stadtrand. Ihr anchor-hold ist die eigene Gartenhütte mit einem kleinen Schreibtisch. Hm, und was erzählt sie nun? Ich werde es merken. Außerdem, nicht nur nicht in der Wildnis war sie nicht, sondern ihr ganzes Schauen und Schreiben sei durchzogen vom Göttlichen. Ganz im Gegensatz zum sozialkritischen und genügsamen Naturmenschen Thoreau. Keine der Rezensionen hatte das erwähnt und die allermeisten, der in den Rezensionen verwendeten Zitate sind aus dem ersten Kapitel des Buches. Haben die Rezensoren nicht weiter gelesen? Weshalb stellen sie Annie Dillard als Naturschreiberin und Einsiedlerin vor? Ich fühle mich betrogen, von denen die das Buch anders darstellen, als es ist.

Nach und nach lege ich die Einflüsterungen der professionellen Rezensionsschreiber – von denen die meisten wohl nur das erste Kapitel gelesen haben – und meine eigenen Vorstellungen von einer Eremitenklause zur Seite. Sobald ich nur das Buch an sich lese, unabhängig von meinen Erwartungen, ist es am ehesten ein philosophisches Buch. Natur kommt allerdings auch vor. Im Kapitel „Sehen“ einige sehr lyrische und gleichzeitig philosophische Gedanken über einen Vogelschwarm, der nur im Augenblick des Aufschwärmens sichtbar wird. Annie Dillard steht vor dem Baum und sieht die Vögel nicht. Wo sind die Vögel, bevor sie losfliegen? Verwandeln sich die Blätter des Baumes in dieser Sekunde in die Vögel und fliegen davon?

Ich frage mich, was es eigentlich ist, dass Annie Dillard da schreibt. Ist dies das „berühmte“ Nature Writing? Dieser Begriff, der einerseits neu und gerade en vogue ist und der andererseits meist für Bücher aus der Vergangenheit verwendet wird. Oder ist Nature Writing – wie ich mittlerweile denke – mehr ein Label, das, unabhängig von dem, was der Autor eigentlich sagen will, einem Text nachträglich zugeordnet wird? Sie selbst sagt, sie wolle ein meteorologisches Tagebuch der Seele führen. Mit dem, was ich lese und zusätzlich aus den verschiedenen Quellen weiß, beginnt sich ein Bild zu formen. Sie war gerade von einer sehr schweren Lungenentzündung genesen. Sie schrieb unaufhörlich. Sie hatte ihre Diplomarbeit über Thoreaus „Walden“ geschrieben. Sie lebte zum großen Teil von Kaffee. Aus solch einer Melange entsteht gewiss etwas Außergewöhnliches.

Annie Dillard hat ein beeindruckendes und umfassendes Wissen in den Bereichen Philosophie, Literatur und Biologie. Mit der Leichtigkeit einer ganzheitlichen Bildung kombiniert sie Zitate von antiken Philosophen gleichermaßen mit dem Gewusel eines Flusswassertropfens unter dem Mikroskop wie mit Inhalten der klassischen Literatur. In ihrem Buch prallen diese Themen ungebremst aufeinander, während sie selbst still am Bachufer sitzt, den vorbeihuschenden Fischen und dem plätschernden Wasser zusieht. Sie entdeckt die Welt um sich herum und entfaltet dabei auch sich selbst. Ihre Gedanken, sind die eines Menschen, der das Denken und Empfinden auf eine neue Weise entdeckt. Mit Blick auf die Schreiberin, die mit all ihrem Wissen am Tinker Creek sitzt und die Welt um sich herum beschreibt, ist das Buch eher eine Coming-of-Age Geschichte, als die Beschreibung der Natur. Zumal, und das ist für mich der wesentliche Unterschied, ich bei Nature Writing auch etwas über die Autorin erfahre. Was bedeutet die Beobachtung der Natur für sie? Was empfindet sie? Aber von alledem erfahre ich nichts.

Ich frage mich lange, wo der christliche Bezug denn sein soll, der im Nachwort so sehr betont wird. In der Mitte des Buches kommt er dann mit Wucht. Erst wird der Leser und dann auch van Gogh darüber belehrt, dass der Schöpfer alles ganz arg fein und behutsam und auf gar keinen Fall experimentell gestaltet hat. Vom größten Kiefernwald bis zum feinsten Rädertierchen. „Der Schöpfer, so möchte ich hinzufügen, bringt die feine Struktur der kleinsten Werke, welche die Natur ausmachen, mit verschwenderischem Genie und maßloser Sorgfalt hervor. Darum geht es mir.“ (Seite 157)

Was ist geworden aus ihrem „meteorologischen Tagebuch der Seele“ (Seite 19), das sie sich vorgenommen hat? Ist es unausweichlich, dass die Beobachtung der Natur in die Bewunderung der allerwinzigsten Details verfällt und von dort direkt zur mystischen Macht eines lenkenden Schöpfers führt? Bereits ihr endloses Wissen über Philosophie und Biologie ist eine Herausforderung beim Lesen. Doch nun wird über alles noch ein gütig-genialer Schöpfer gestülpt. Spätestens ab „Unser Leben ist eine schwache Spur auf der Haut des Mysteriums“ (Seite 177) entrückt Annie Dillard in für mich unerreichbare Sphären. Ich kann ihren Gedanken aus Amöben und Lichtjahren nicht mehr folgen.

Liebe Annie, nun ist es einfach mal gut, mit Deinem göttlichen Mysterium. Warum erfahre ich in Deinem Buch eigentlich nichts über Dich? Über Rädertierchen und Gottes Barmherzigkeit kannst Du seitenlang referieren, aber über Dich weiß ich noch immer kein Wort. Mach’s gut. Pass‘ auf mit dem Hochwasser (Seite 181) und grüße die Amöben von mir. Ich muss jetzt in den Wald. Dort beginnt der Frühling. Ganz ohne Gott und Philosophen, aber mit Waldmeister und Buschwindröschen. Vielleicht zähle ich auch die Zacken an den Blättern der Brennnessel. Dafür brauche ich weder Mikroskop noch Platon und alle seine Kumpels. Ich glaube, das Leben ist viel einfacher, als wir uns das oft vorstellen.


1 Henry David Thoreau (1854) „Walden oder Das Leben in den Wäldern“

2 Auf Deutsch zuerst als „Der freie Fall der Spottdrossel“, später dann als „Pilger am Tinker Creek“


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