Was ist Nature Writing? – Versuch einer Definition

Angeregt durch meine eigenen Texte über den naturnahen Garten oder die Naturlandschaft des Lake Districts in England, beginne ich mich mit dem Thema Nature Writing zu beschäftigen. Ich stöbere lange durch Social Media und das Netz im Allgemeinen, um Erklärungen und Beispiele zu finden. Immer wieder taucht dabei Henry David Thoreau und seine Waldhütte auf. Wenn er gewusst hätte, welch Vorbild er noch 150 Jahre später ist. Beim genaueren Blick auf Nature Writing, wird klar, dass jedes Land seinen eigenen Begründer des Nature Writings hat:
In England ist es der Pfarrer Gilbert White, aus der Südenglischen Grafschaft Hampshire, der von 1765 an über ein Vierteljahrhundert ein wissenschaftliches Tagebuch geführt hat.
In den U.S.A. ist es natürlich Henry David Thoreau mit seinem Buch „Walden“ von 1854.
In Deutschland ist es Alexander von Humboldt, der in seinem ab 1845 erschienenen „Kosmos“ die weltweite Vernetzung der Ökosysteme vorstellt.

Bei meinem Versuch, Nature Writing zu verstehen, lese ich zahlreiche Artikel, die letztlich alle die gleichen zwei Kernpunkte herausarbeiten:
1 Es gibt keine eindeutige deutsche Übersetzung für Nature Writing.
2 Es ist unklar, welche Texte zum Nature Writing gehören und welche nicht.

Als Lösung werden beliebig komplexe sprachphilosophische oder landschaftssoziologische Herleitungen angeboten. Als Beispiel mag die Ausschreibung für den „Deutschen Preis für Nature Writing“ dienen:
Die Thematisierung von ›Natur‹ schließt die Dialektik von äußerer und innerer Natur ebenso ein wie die Auflösung der Grenzen von Kultur und Natur, aber auch die Möglichkeiten oder Probleme des Schutzes von Naturerscheinungen und natürlichem Geschehen. Nature Writing spricht nicht von ›der Natur als solcher‹, sondern von der durch Menschen wahrgenommenen, erlebten und erkundeten Natur. Die leibliche Präsenz, die konkrete Tätigkeit des Erkundens und die Reflexion auf die gewonnenen Erkenntnisse werden in der Regel im Text fassbar. [1]
Ach ja, so ist das also. Und was heißt das nun?

Ich kann mir bei keinem der mir mittlerweile bekannten Autoren vorstellen, dass dies der Ausgangspunkt ihres Schreibens war. Für mich wäre diese Rahmenbedingung auf jeden Fall der Anlass zum sofortigen Verstummen. Diese kaum verständlichen und ausgrenzenden Definitionen sind allerdings eher die Regel als die Ausnahme. Für Ludwig Fischer [2] sind dann auch bereits Peter Wohllebens Waldbücher Gift für das Nature Writing: Es führe zu einer Pseudowahrnehmung der Natur. Wir glauben die Bäume verstehen zu können, indem wir unser menschliches Denken auf sie übertragen. Auch Nature Poetry bewertet er als eine problematische Form des Nature Writing. [3]

Einerseits wird bemängelt, dass die Literaturform „Nature Writing“ in Deutschland erst in den letzten Jahren langsam bekannt wird. Andererseits werden die Anforderungen so hochgeschraubt, dass mir nicht klar ist, welcher Autor dies erfüllt und welcher Leser das lesen möchte. Das entgegengesetzte Ende der Definitionsskala bildet Birgit Recki, für die selbst ein Smartphone noch Natur ist, da es von einem Menschen erfunden wurde, und Menschen sind Teil der Natur. Außerdem funktioniert es nach den Regeln der Naturgesetze. [4]

Im Englischen gibt es nicht nur mehr Autoren des Nature Writings, auch die Grammatik der Sprache macht vieles leichter. So wird Lucy F Jones (Losing Eden / Die Wurzeln des Glücks: Wie die Natur unsere Psyche schützt) ohne Zögern als Environmental Writer bezeichnet. Im Deutschen funktioniert diese Art der Wortbildung nicht. Man sagt nicht, er oder sie ist ein Umweltautor oder gar „Ich schreibe Umwelt“. Andererseits, Romanautor oder „Ich schreibe Kurzgeschichten“ geht doch auch.

Eine relativ einfache Definition entdecke ich schließlich beim Radiosender Deutschlandfunk Kultur: Nature Writing: Fiktionale und nicht-fiktionale Prosa oder Poesie über Landschaft und Natur. Nature Writing nimmt seinen Anfang mit Gilbert White, einem englischen Pastor und Ornithologen. 1789 veröffentlicht White „The Natural History of Selborne“, eine Folge von 110 Briefen über die Flora und Fauna seiner Gemeinde in Hampshire.[5]

Was ist nun Nature Writing? Henry David Thoreau, der mehr über die gesparten Pfennige und die Unverständigkeit seiner Mitbewohner schreibt als über die Natur um ihn herum? Annie Dillard, die Thoreau nacheifern möchte, aber dann doch am Stadtrand bleibt und das Göttliche sucht? [6] Ist dies das „berühmte“ Nature Writing? Dieser Begriff, der einerseits neu und gerade en vogue ist und der andererseits meist für Bücher aus der Vergangenheit verwendet wird. Oder ist Nature Writing – wie ich mittlerweile denke – mehr ein Label, das, unabhängig von dem, was der Autor eigentlich sagen will, einem Text nachträglich zugeordnet wird?

Bleibt Emily Carr, eine Malerin, die in ihrem Tagebuch auch über die Ureinwohner Kanadas berichtete.[7] So muss es vielleicht sein. Die Natur nicht als die Absicht, sondern als das, was mit dabei ist. Kein „Seht her, ich schreibe jetzt über die Natur“, sondern das beschreiben, was vor Augen ist und dabei die Natur um sich selbst herum mit in den Text fassen.

Je länger ich mich mit der Frage nach der Definition von Nature Writing beschäftige, desto klarer wird für mich:
1 Es ist unerheblich, wie Nature Writing im Deutschen genannt wird. Nature Writing definiert sich über den Inhalt und nicht die Form oder den Namen.
2 Jeder Leser, jeder Verlag, jeder Schreibwettbewerb wird andere Texte mit dem Siegel „Nature Writing“ versehen und die genau dazu passende Definition des Nature Writings liefern.

Vielleicht fehlt es gar nicht an einer offiziellen Übersetzung, sondern nur am Mut, neue Worte wie Umweltautor oder Naturliteratur zu denken ohne zuvor eine Erlaubnis der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ einzuholen. Es gibt auch im deutschen genug Texte, die längst zum Nature Writing gehören. Für mich zählen Ilga Eger und Susanne Wiborg mit ihren Gartenbüchern genauso zum Nature Writing wie Nan Shepherd oder John Muir. Bei Henry David Thoreau bin ich mir hingegen nicht mehr so sicher. Wenn ich sein Buch tatsächlich lese, geht es dort mehr um seine eigene Weisheit und die antiken Philosophen in der Originalsprache. Über weite Strecken suche ich die Natur bei Thoreau vergeblich.

Was ist nun Nature Writing für mich?
Das Schreiben in der Natur und über die Natur. Schreiben über das was, ich in der Natur sehe, rieche, höre, schmecke, taste und empfinde.
Die Selbstreflexionen angestoßen durch die Natur. In Beziehung gehen zur Natur. Die Wahrnehmung dieser Beziehung. Darüber schreiben, was mit und durch diese Beziehung anders wird.


[1] Ausschreibung „Deutscher Preis für Nature Writing
[2] Buchveröffentlichung von Ludwig Fischer
[3] Blog – LITAFFIN – Nature Writing im Trend
[4] Birgit Recki im Radiosender Deutschlandfunk Kultur
[5] „200 Jahre Nature Writing“ Beitrag im Radiosender Deutschlandfunk Kultur
[6] Buchvorstellung „Annie Dillard – Pilger am Tinker Creek“
[7] Wikipedia zu Emily Carr


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