Henry David Thoreau „Walden oder Ein Leben in den Wäldern“ (Buchvorstellung)

Ich vermute einmal, dass jeder, der sich mit dem Themen „Leben mit der Natur“ beschäftigt früher oder später auf Henry David Thoreaus „Walden oder Ein Leben in den Wäldern“ trifft. Jedes Mal wenn mir in den letzten 10 Jahren dieses Buch begegnet ist, wurde eine andere Facette vorgestellt aber letztlich waren es immer Begeisterung und Hochachtung für Henry David Thoreau, die aus den Kommentaren sprachen.

Die Hütte im Wald
Thoreau, das ist als allerstes der Typ, der sich eine Hütte im Wald gebaut hat und zwei Jahre alleine an einem See, dem Walden-Teich, lebte. Daher auch der Name des Buches. Ist nicht alleine schon das für die allermeisten Menschen ein Traum? Einfach mal so zwei Jahre seine Ruhe haben und der Natur lauschen. Das mit der Natur und dem Lauschen funktionierte in Thoreaus Hütte wunderbar, sie hatte nämlich anfangs keine Tür. Später stand sie Tag wie Nacht offen und wenn Thoreau am Morgen erwachte, dann lief durchaus ein Eichhörnchen durch seine Hütte oder verschiedene Vögel flatterten umher.

Obwohl ich inzwischen zwei ausführliche Beschreibungen des Lebens von Henry David Thoreau gelesen habe, ist mir nicht wirklich klar, von was der Mann gelebt hat. Woher er das wenige nahm, das er selbst brauchte (Nahrung, Kleidung) bleibt für mich unklar. Gerade dies sind die Dinge, die ich gerne lernen würde. Ich gönne es jedem, der in der glücklichen Lage ist, zwei Jahre Ferien in einer Holzhütte zu machen. Ich aber möchte lernen, dies auch zu tun. Mir ist klar, dass nicht alles, was vor 200 Jahren funktionierte heute auch noch taugt – doch wer weiß, manches wird auch noch aktuell sein.
Als ich nach den Lebensbildern das Buch selbst lese, bin ich erst einmal ernüchtert. Ich erfahre weder, was ich als Selbstversorger alles brauche, um mein Leben zu sichern, noch wimmelt es von philosophischen Einsichten. Mir wird klar, dass ich immer nur über dieses Buch gelesen habe und dass jede der verschiedenen Moderichtungen der letzten Jahrzehnte dieses Buch in seine eigene Richtung interpretiert hat. Mal waren es Schüler in einem Kinofilm, die gerade die Literatur der Romantik entdeckten, mal Zurück-zur-Natur-Begeisterte, die in der Reduktion auf das Wesentliche ihren Weg erkannten und ein drittes Mal Reformköstler, die in Thoreau einen frühen Verfechter des Vegetarismus definierten. Mittlerweile ist es fast 200 Jahre her, dass Thoreau in seiner Hütte saß und einfach nur jeden Tag aufschrieb, was er so erlebte und dachte.

Sparsamkeit Die wichtigsten Themen des Buches sind das Lob der eigenen Sparsamkeit und der Tadel seiner unwissenden Mitbürger. Da der offizielle Anlass zum Schreiben des Buches der Bau seiner Waldhütte ist, kommt die Natur auch vor.
Gleich im ersten Kapitel „Sparsamkeit“ schimpft er über die Bürger, die einen Bauernhof erben und sich zu dessen Sklaven machen. „Wären sie doch lieber nackt und mittellos auf dem Felde geboren anstatt einen Bauernhof zu erben.“[1] Das sagt einer, der selbst wohlhabend genug ist, um zu studieren, griechische Philosophen grundsätzlich im Original liest und obendrein auf einer Farm geboren wurde.
„Ein mir bekannter junger Mann, der einige Hektar Land geerbt hatte, sagte mir, dass er gerade so wie ich leben würde, wenn er die Mittel besäße.“
Thoreau reagiert recht herablassend auf das Ansinnen des erwähnten Mannes. Er vergisst dabei allerdings, dass er zwar wenig Bargeld besitzt aber dennoch über die Mittel „Bildung“ und „Unterkunft bei Freunden“ verfügt, ohne die er sich seinen eigenen Lebensstil ebenfalls nicht leisten könnte.  

Selbstreflexionen
Thoreaus Stärke ist das Denken. Am liebsten ist er im Freien und geht seinen Gedanken nach: „Früher, als die Frage, wie ich mir auf ehrliche Weise meinen Lebensunterhalt verdienen könne ohne all meine freie Zeit für meine eigentlichen Bestrebungen zu verlieren, mich noch heftiger quälte als jetzt…“ Für eine „normale“ Arbeit hat er also gar keine Zeit. Und Dank seiner Sparsamkeit, kommt er mit einem geringen Einkommen zurecht. Er nutzt seine Zeit, um die verschiedensten Themen zu durchdenken, und kommt dabei zu überraschenden Ergebnissen.  
Arbeit
„Mehr als fünf Jahre schlug ich mich auf diese Weise einzig durch meiner Hände Arbeit durch und ich fand, dass eine Arbeitszeit von sechs Wochen im Jahr zur Deckung aller Ausgaben im Verlauf eines ganzen Jahres ausreichte.“
Kleidung
„Hütet euch vor allen Beschäftigungen, die neue Kleider verlangen. Wie kann ein neuer Anzug passen, wenn der Mensch nicht neu ist? Plant ihr irgendein neues Unternehmen, so versucht es in euren alten Kleidern.“
„Was nützt ihr Maßnehmen [das der Schneiderin], wenn sie nicht meinen Charakter misst, sondern nur die Breite meiner Schultern, als ob diese ein Holzpflock wären, über den der Anzug gehängt wird?“
Wohnen
„Bei den Wilden besitzt jede Familie ein Obdach, welches den Vergleich mit jedem anderen aushält und für gröbere und einfachere Bedürfnisse genügt. Ich glaube mich maßvoll auszudrücken, wenn ich andererseits behaupte, dass in der modernen zivilisierten Gesellschaft nur ungefähr jede zweite Familie ein Obdach besitzt.“
„Die meisten Menschen scheinen nie darüber nachgedacht zu haben, was ein Haus ist (…) weil sie glauben ein gleiches Haus wie ihre Nachbarn haben zu müssen. Als ob der Mensch gerade den Rock tragen müsste, den der Schneider zufällig für sie zugeschnitten hat.“
Wiewohl er seine Gedanken oft in Form von Lehrsätzen formuliert, betont er gleichzeitig, dass er sich nicht als Vorbild sieht und es sogar eindeutig ablehnt, dass jemand im nacheifern möge: „Ein jeder soll sich eifrig bemühen, seinen eigenen Weg zu finden, und nicht den seines Vaters, seiner Mutter oder seines Nachbarn.“

Lebenskunst
Zwischen den Beschimpfungen der Mitbürger schon fast im Text versteckt, sind seine Aussagen zur Lebenskunst, die Thoreau bis heute aktuell sein lassen.
„Wir müssen lernen wieder wach zu werden und uns wach zu erhalten, nicht durch mechanische Hilfsmittel, sondern durch das unendliche Erwarten des Sonnenaufgangs.“ Könnte ebensogut aus einem der heutigen Ratgeber zum Thema Achtsamkeit stammen.
„Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Ich sage Dir: Gib Dich mit zwei oder drei Angelegenheiten ab, aber nicht mit hundert oder tausend.“ Das räumt mit dem Mythos des Multitaskings auf.
„Unser Land lebt zu schnell. Die Menschen glauben, es sei von Wichtigkeit, dass die Nation Handel treiben, telegrafisch sprechen und wenigstens dreißig Meilen in der Stunde fahren könne. Wenn wir aber zu Haus bleiben und nur das tun, was uns angeht: Wer braucht dann Eisenbahnen?“ Ach, lieber Thoreau, wenn Du wüsstest, dass die Menschen heutzutage noch weit schneller als 30 Meilen pro Stunde fahren. Und was wir alles nicht brauchen, wenn wir zu Hause bleiben, haben wir in den letzten beiden Corona-Jahren feststellen können.
Es sind vor allem einzelne Perlen, die aus Thoreaus Walden hervorleuchten. Sätze wie „Um ein Philosoph zu sein, muss man ein einfaches Leben führen“ oder „Einige Probleme des Lebens sollen wir nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch lösen.“ Gleichzeitig schreibt er sehr sprunghaft. Das endgültige Buch ist die vierte oder gar siebte Überarbeitung der Gedanken, die Thoreau in seiner Zeit am Walden notierte. Trotz dieser zahlreichen Überarbeitungen bleibt der Eindruck, es handelt sich um eine Sammlung von Notizen und Gedanken. In einem Absatz beschreibt er zum Beispiel, wie der Körper Nahrung in Wärme umsetzt und im nächsten Absatz beklagt er den Verlust seines Hundes. Schimpft er in einem Satz über die Menschen, die unter der Last ihrer Pflichten stöhnen, so nennt er sich selbst zwei Seiten später einen „selbstangestellten Inspektor der Schneestürme, der getreulich seien Pflicht tut“.

Fazit
Ich frage mich, wie dieses Buch je Berühmtheit als Aussteiger- oder Selbstversorger-Fibel erlangen konnte und Thoreau zusätzlich als Erfinder des Nature Writings angesehen wird. Alle diese Themen kommen im Buch nicht vor. Die einzige Möglichkeit, die ich mir denken kann, ist, dass „Walden“ gar nicht gelesen wird, sondern nur die wenigen Kalendersprüche von einem Anhänger an den nächsten weitergegeben werden.


[1] Alle Zitate nach Henry David Thoreau „Walden oder Leben in den Wäldern“ , Nikol Verlagsgesellschaft Hamburg. 3. Auflage 2017.


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