Ich muss das Wort „Nature Writing“ nicht einmal aussprechen, allein nur daran zu denken reicht aus, um den Namen Henry David Thoreau aus dem Nebel der Vergangenheit auftauchen zu lassen. Dazu das in allen Veröffentlichungen verwendete Foto, eines bereits alt wirkenden Mannes mit seltsam geschnittenem Bart. Das Kinn ist rasiert und ein wild wuchernder Bart wächst vom Hals bis zu den Ohren gleich einer lebendigen Halskrause.
Henry David Thoreau wird oft als einer der Begründer des Nature Writings, sowie als Erfinder des genügsamen Selbstversorgerlebens benannt. Wenn man das Buch „Walden oder Leben in den Wäldern“ tatsächlich liest, wird deutlich, dass Thoreau eine ganze Reihe von Themen hatte. Das Leben in der Natur war nur eines davon.
„Wer nicht gelernt hat, die alten Klassiker in der Originalsprache zu lesen, kann nur eine höchst mangelhafte Kenntnis von der Entwicklung des Menschengeschlechtes haben.“ [1]
Auch das ist Thoreau und auch das ist Walden. Ein so ganz anderes Buch als der Begriff Nature Writing sich vorstellen lässt. Was also dachte sich Thoreau, als er das Buch schrieb, und was würde er zu dem Begriff Nature Writing sagen?
Thoreau leiht sich im Frühjahr 1845 eine Axt und läuft 2 Meilen von seinem Heimatort Concord zu dem Teich Walden, um dort eine Hütte zu bauen:
„Die Wände bestanden aus rohen, wettergefleckten Brettern mit großen Spalten, so dass es kühle Nächte gab. Die groben, weißen, behauenen Pfosten die frisch gehobelte Tür- und Fensterverkleidungen verliehen dem Haus ein sauberes und luftiges aussehen.“
„Meine Hütte war nicht nur zum Denken, sondern auch zu ernster Lektüre viel geeigneter als die Universität.“
Und das ist es, was Thoreau macht, er philosophiert. Ausgestattet mit einer umfassenden Kenntnis der antiken Philosophen und angeregt von der Liebe zur Natur, sitzt er in seiner Hütte und geht seinen Gedanken nach. Besonders glücklich sind ihm diejenigen Tage, an denen er erst am Nachmittag gewahr wird, dass er den ganzen Tag vor seiner Hütte saß und über die Natur und das Leben nachsann. Dazu schreibt er ausführliche Tagebücher über seine Gedanken. Die Tagebücher sind weit umfangreicher als „Walden“ und ich vermute, dass in diesen Tagebüchern auch wesentlich mehr seiner Naturbeobachtungen notiert sind. In Walden erwähnt Thoreau an vielen Stellen, dass er die Natur beobachtet, aber berichtet wird davon sehr wenig. Stattdessen berichtet er viele seiner philosophischen Gedanken.
„Heutzutage gibt es Dozenten der Philosophie – aber keine Philosophie. Wie man einst trefflich sein Leben verbrachte, darüber hört man heute trefflich dozieren. Geistreiche Gedanken und selbst die Gründung einer Schule, machen noch keinen Philosophen. Vielmehr muss man die Weisheit solchermaßen lieben, dass man nach ihren Vorschriften lebt.“
Thoreau nimmt sich vor, seine Ideen nicht nur aufzuschreiben, sondern sie auch tatsächlich umzusetzen und führt, zumindest für die beiden Jahre am Waldenteich, von denen sein Buch berichtet, das Leben, das er in seinen Theorien fordert. Leider belässt er es nicht dabei Genügsamkeit zu fordern und selbst zu leben. Der überwiegende Teil seines Buches beschäftigt sich damit, wie wenig seine Mitbewohner in Concord vom wirklichen Leben verstehen und wie viel besser er seine Theorien umsetzt. Ausgehend von seiner Mindestforderung, die antiken Philosophen im Original zu lesen, machen seine Mitbewohner alles falsch, was auch immer sie anfangen. Die Eisenbahn ist ein Übel und zudem völlig überflüssig. Eigene Möbel sind überflüssig, kann man sich doch welche von den Nachbarn schenken lassen. Ein eigenes Haus ist überflüssig, kann man doch auch am Waldenteich eine Hütte bauen. Eine regelmäßige Arbeit ist überflüssig, kann man doch mit nur vier bis sechs Wochen Arbeit als Tagelöhner alles erwirtschaften, was man zum Leben braucht. (Vielleicht abgesehen, von dem Land, auf dem die Hütte steht, der Axt, die man sich für den Bau leihen muss, die Möbel, die man sich von den Mitbewohnern schenken lässt.)
Gleichzeitig tauchen zwischen all der Abschätzigkeit, mit der er seine Mitmenschen bedenkt, immer wieder zeitlose Wahrheiten auf. Diese Sätze für sich alleine genommen und mit dem Namen Thoreau, sowie der Quelle Walden versehen, machen den Glanz aus, den das Buch bis heute hat:
„Einfachheit, Einfachheit, Einfachheit! Ich sage Dir: Gib Dich mit zwei oder drei Angelegenheiten ab, aber nicht mit hundert oder tausend.“
Für überraschend viele und verschiedene Überzeugungen, vom vegetarischen Leben bis zum bedingungslosen Grundeinkommen, lässt sich aus Walden ein beeindruckender Zitateschatz zusammenstellen, der Thoreau als Vordenker all dieser Überzeugungen erscheinen lässt. Diese Zitate sind es dann auch, die für die Berühmtheit als Aussteiger- oder Selbstversorger-Fibel sorgen. Als ganzes Buch gelesen, wird deutlich, dass sich aus Walden nichts Konkretes für ein Leben in den Wäldern lernen lässt.
Nachdem ich inzwischen eine Reihe anderer Bücher des Nature Writings gelesen habe, ordne ich Thoreau bei der Philosophie ein, und nicht bei der Natur. Denn das ist es, was Thoreau macht und worüber er schreibt: Er stellt seine philosophische Theorie der Gesellschaft vor. Er liebt das freie Leben in der Natur und begründet an vielerlei Beispielen, weshalb persönlicher Besitz für ihn eine Last und kein Gewinn ist, aber selbst wenn er seine Bohnen hackt, ist er mit dem Kopf bei den antiken Philosophen.
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[1] Alle Zitate nach Henry David Thoreau: „Walden oder Leben in den Wälder“, Nikol Verlag 2016
Es ist schon länger dass ich es las. Und bei deinen Zitaten dachte ich ja: so würde ich gern leben-irgendwann einmal. Sich befreien von den Fesseln einer Existenz im Zwang, und das obwohl ich meine Zwänge auch liebe.
Ich finde Thoreau ist beides: Philosoph uund Naturewriter und oft verbindet sich das ja auch.
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Ja, dieses freie Leben ist sehr faszinierend und ich überlege selbst auch, wie ich mehr davon bekommen kann.
Gleichzeitig hat es mich überrascht, wie wenig es in dem Buch um die Natur geht. Thoreau schreibt hauptsächlich über sich selbst. Ist das dann noch Nature Writing? Den Rest der Zeit verbringt er damit, auf seine Mitbürger zu schimpfen. Im Grunde genommen gibt es niemanden, auf den er nicht herabblickt. Niemand ist so schlau wie er, sondern alle anderen mühen sich mit ihrem Alltagsleben ab. Nach der Zeit in seiner Hütte, die ja nur zwei Jahre dauert, lebt er entweder bei seinem Freund Emerson oder wieder bei seinen Eltern. Das klingt dann schon deutlich weniger nach freiem Leben.
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