Das Vorwort
Im Vorwort zu „Yosemite“ wird der Autor John Muir von Mordecai Ogada, einem Ökologen und Naturschützer aus Kenia aufs übelste als Rassist und Kolonialist beschimpft. Manches davon mag sogar stimmen. Doch schon nach wenigen Seiten dieser wütenden Vorrede, frage ich mich, weshalb ich das Buch überhaupt lesen soll, wenn Muir doch ein übler Kolonialist und Wildtiermörder ist – oder er zumindest Wildtiermörder kannte. Für mich als Leser ist dieses aus gekränkter und vorwurfsvoller Perspektive geschriebene Vorwort genausowenig eine neutrale Sicht, wie die von John Muir.
Gab es für den Verlag und die Herausgeberin keine andere Möglichkeit einer einordnenden und gerne auch kritischen Betrachtung Muirs? Weshalb stellt die Herausgeberin einem Werk, das sie doch einer Öffentlichkeit zugänglich machen will, ein Vorwort voran, das aus allen Poren schreit: „Muir ist ein Kolonialist. Und Du Leser bist nicht besser als Muir, wenn Du es wagst Muir zu achten und Dich für sein Werk interessierst“.
Natürlich hat Ogada recht damit, dass Muir die Leistung der Ureinwohner beim Schutz der Landschaft nicht anerkannte. Bei Ogada liest sich das allerdings so, als hätte man nur Muir und den falsch verstandenen Naturschutz stoppen müssen und alles wäre gut geblieben. Die Bisons lebten noch heute und die amerikanischen Ureinwohner säßen noch immer im Yosemite am Lagerfeuer.
Um Muir zu bewerten, wäre ein Blick in die Bücher seiner Zeitgenossen eine wichtige Quelle. Was haben andere Natur-Menschen wie Thoreau oder Emerson zu dieser Zeit geschrieben? Und was war das Verständnis der Siedler oder der Eisenbahngesellschaft? Einfach alle Weißen zu verdammen, macht weder das Aussterben der Bisons ungeschehen, noch hilft es die Situation anderer indigener Völker zu verbessern.
Eine schlechtere Hinführung zum Thema des Buches kann ich mir nicht vorstellen. Der Verlag Matthes&-Seitz beweist eindrücklich, wie ein Autor schon vor dessen erster Zeile so verunglimpft wird, dass ihn niemand mehr lesen will.
Andrea Wulf
Bevor ich „Yosemite“ zur Hand nahm, war mir John Muir bereits in Andrea Wulfs „Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur“ begegnet. Andrea Wulf zeichnet ein vollständig anderes Bild von John Muir als Mordecai Ogada. Ihr John Muir ist ein hellsichtiger Wanderer, der schon früh erkennt, dass Siedler, Eisenbahn und Industriealisierung die Landschaft grundlegend und dauerhaft verändern.
Wulf macht deutlich, dass die Natur schon vor Muirs Eingreifen zerstört wurde. Siedler, Eisenbahnen und Goldgräber sind keineswegs achtsam mit dem Land und dem Leben der Ureinwohner umgegangen. Beide Gruppen (Siedler und Naturschützer) erkannten die Ureinwohner nicht als gleichwertige Menschen an. Ogada sieht diese Missachtung als Alleinstellungsmerkmal des Naturschutzes und verdammt daher jeglichen Naturschutz, der von christlichen oder weißen Menschen ausgeht. Doch die Behauptung, dass ausschließlich der Naturschutz die Ureinwohner vertreibt, macht es sich eindeutig zu einfach. So gerne Ogada diese These auch auf jeder Seite seines Vorwortes wiederholt.
Das Buch
Nach fast 20 Seiten der Beschimpfungen auf die Weißen, die Christen, die Siedler, die Kolonialisten, die Umweltschützer darf ich endlich damit beginnen, John Muirs Worte zu lesen und mir selbst ein Bild zu machen.
Hm, nun denn, es ist schon etwas schmalzig. Die ersten Seiten lesen sich wie ein schlecht geschriebener Reiseführer. Es ist viel mehr ein „Auf der rechten Seite sehen Sie nun…“ als eine Naturbeschreibung. Beim Lesen habe ich eher einen Stadtführer mit buntem Schirm vor Augen, als einen Wanderer mit Pflanzenpresse auf dem Rücken, als der sich Muir auf den ersten Seiten vorstellt. Erneut zeigt sich, dass erst der eigene Blick zeigt, ob ein Autor zum Vorbild taugt. Wenn das Buch so bleibt, bin ich damit schnell durch und kann mich erneut mit Alfred Wainwright beschäftigen.

Seite für Seite rauschen die Wasserfälle. Kometenhafte Wassermassen stürzen. Wolken aus Sprühnebeln jagen. So geht es bei jedem der 400 oder gar 600 Fuß hohen Wasserfälle. Der Text macht nur Sinn, wenn ich eine Landkarte daneben lege, weil ich die Tour für morgen plane: Wie hoch ist der nächste Wasserfall? Werde ich Blütenfelder sehen? Wie viele Höhenmeter sind zu bewältigen?
Ich entsinne mich an meine erste Reise durch Norwegen, das ähnlich reich an Wasserfällen ist. Auch ich war von jedem Wasserfall neu begeistert. Als „Die 25 schönsten Wasserfälle im Yosemite“ wäre es ein historischer Reiseführer. Als literarisches Buch ist es einfach zu viel vom Immergleichen. Nach den ersten fünf Beschreibungen lassen sich die nächsten zehn Wasserfälle getrost überblättern.
Außer Muir selbst kommen im Buch keine Menschen vor. Touristen werden zwar erwähnt, aber kein einziger kreuzt tatsächlich Muirs Weg. Oder wenn er es vielleicht doch tat, so findet er keine Erwähnung. Und trotzdem spricht Muir von Wege, Pfaden und häufig besuchten Zielen. Es ist also davon auszugehen, dass die Landschaft längst nicht so einsam war, wie der Text glauben macht.
Die Übersetzung
Zuerst sind es Kleinigkeiten, über die ich stolpere, wie die Höhenangaben in Fuß. Das mag Muir so geschrieben haben, aber vom Übersetzer wünsche ich mir doch eine Übertragung für den hiesigen Leser. Was bei „Fuß“ noch kleinkariert klingen mag, ist spätestens bei Temperaturangaben in Fahrenheit ein echter Mangel. Sind 30 Grad Fahrenheit jetzt eher warm oder doch bitterkalt?
Mehrfach habe ich gelesen, dass Muirs Texte beim Erscheinen so beliebt und erfolgreich waren, dass die Touristen in Scharen in den Yosemite pilgerten, um die beschriebene Natur zu erleben. Weshalb soll irgendjemand die ermüdenden Schilderungen zahlreicher Wasserfälle attraktiv gefunden haben? Bei Muirs Erlebnissen mit Schnee in Form von Lawinen und Stürmen habe ich zum ersten Mal den Eindruck, dass er vielleicht wirklich so schreibt, dass Menschen gerne den Yosemite besuchten. Für einen besseren Eindruck schlage ich eine der Passagen im Original nach:
„Fancy yourself standing beside me on this Yosemite Ridge. There is a strange garish glitter in the air and the gale drives wildly overhead, but you feel nothing of its violence, for you are looking out through a sheltered opening in the woods, as through a window.”
Daraus wird in der deutschen Version:
„Es war die lebendig gewordene Fantasie selbst, die sich mir auf dem Gebirgskamm offenbarte. Ein eigentümliches und auffallendes Funkeln lag in der Luft und der Sturm jagte wild umher, ohne dass man seien gewaltige Kraft merklich spürte. Es war fast so, als blickte man durch die Lücke der Schutz bietenden Wälder wie durch ein Fenster.“
Ähm, nun ja, die beschriebene Situation hat eine gewisse Ähnlichkeit. Aber wo kommt die Fantasie plötzlich her? Wo ist die persönliche Ansprache des Lesers hin? Und warum klingt die Sprache so verstaubt? Also nein, so geht das wirklich nicht. Ich tippe die wenigen Zeilen ab und gebe sie in der Übersetzungssoftware deepl.com ein:
Stellen Sie sich vor, Sie stünden neben mir auf diesem Yosemite-Kamm. Es liegt ein seltsames, grelles Glitzern in der Luft, und der Sturm treibt wild über uns hinweg, aber Sie spüren nichts von seiner Gewalt, denn Sie schauen durch eine geschützte Öffnung im Wald wie durch ein Fenster hinaus.
Hey, es geht doch! Das hat etwas von „I have a dream!“ Da schwingt die Begeisterung des Autors mit. Außerdem ist es ungefähr das, was ich selbst auch verstanden habe. Bei dem „strange garish glitter” war ich mir nicht sicher.
Sowohl meine eigene Übersetzung als auch die automatische durch deepl weichen spürbar von Matthes&Seitz ab. Es erschreckt mich, dass eine Computersoftware, die nichts über John Muir und das Yosemite-Valley weiß, sondern nur zwei aus dem Zusammenhang gerissene Sätze bekommt, dennoch eine aussagekräftige Übersetzung liefert als der von einem Fachmann persönlich erstellte und vom Lektorat geprüfte Text.
Ein neuer Anfang
Vor kurzem habe ich gelernt, dass annullieren eine Zusammensetzung der lateinischen Begriffe „ad“ und „nullus“ ist und als „wieder auf Null setzen“ bzw. „als sei es nie dagewesen“ zu verstehen ist. Das werde ich mit John Muir und dem Yosemite tun.
Die deutsche Übersetzung und die wütende Vorrede verschwinden, als seien sie nie da gewesen. Ich aber werde den einen oder anderen Abend mit dem Wörterbuch am Kamin sitzen oder vielleicht auch im sommerlichen Garten und werde John Muir im Original lesen.
